Die Serra da Capivara ist ein ca. 130 000 ha großer 1979 installierter Nationalpark im Südosten des brasilianischen Bundesstaates Piauí. Geschützt werden sollen vor allem die Vielzahl der dort entdeckten uralten Felszeichnungen. 1991 wurde der Nationalpark von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.
Eine der Zeichnungen wird als ein Kuss zwischen zwei geschlechtsneutralen Personen interpretiert. Es könnte die älteste Kussdarstellung der Geschichte sein. Allerdings ist das Alter bislang umstritten, denn die Erdschicht, in der die Zeichnung gefunden wurde, ist nach Messungen 30.000 Jahre alt. Das aber widerspricht der bislang als gültig angesehenen Besiedlungsgeschichte des amerikanischen Kontinents.
Der Internationale Tag des Kusses soll die Zuneigung zwischen Menschen fördern, auch ruft er zum ausgiebigen Küssen auf. Angeblich wurde der Tag im Jahr 1990 in Großbritannien etabliert (vgl. „Augsburger Allgemeine“ vom 6. Juli 2010).
Das Küssen scheint neben seiner vielfätigen und unterschiedlichen sozialen Symbolik auch biologische Wurzeln zu haben, die allerdings m.E. bis heute umstritten sind.
Die Bonobos, Zwergschimpansen aus Zentralafrika, die von ihren Genen her immerhin zu 98,7 Prozent mit dem Homo sapiens übereinstimmen, küssen häufig und – wie die Menschen - zu unterschiedlichen Gelegenheiten. Bonobos küssen zur Begrüßung, beim Schmusen oder zur Beruhigung, als Versöhnungsgeste nach allerlei Konflikten und Streit. Wenn die Affen sexuell erregt sind, wurden auch Zungenküsse beobachtet.
Schon Alfred Kinsey wies darauf hin, dass „… tiefe Küsse Orgasmus hervorrufen (können), selbst wenn keine weiteren physischen Kontakte dabei entwickelt werden“ (vgl. Kinsey, S. 487, a.a.O.).
Zootierpfleger berichteten öfter, dass sie zuweilen von ihren Bonobo-Pfleglingen geküsst werden, Bonobos küssen also auch artübergreifend.
Auch bei Reptilien, Vögeln und Säugetieren gehören Zungen- und Mundkontakte vielfach zu sexuellen Aktivitäten (vgl. Kinsey, S. 487, a.a.O.).
Der österreichische Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt (* 1928) beschrieb in „Liebe und Hass“ den Kuss als ritualisierte Fütterung: Mütter zerkleinerten vielfach in ihrem Mund die Nahrung und gaben sie auch über den Mund an das Kind weiter (Eibl-Eibesfeldt, S. 209, a.a.O.). Diese Geste der Fürsorge, der Nähe und Liebe aus der Bindung zwischen Mutter und Kind sei die Wurzel des Kusses. Bei vielen Völkern findet man diese Art der Fütterung auch heute noch, etwa bei den Himbas in Namibia
Einige jüngere Forschungen lehnen der These von der Mund-zu-Mund-Fütterung als Ursprung des Küssens ab.
Die Bremer Kulturanthropologin und Kussforscherin Ingelore Ebberfeld z.B. betonte, dass nicht alle Ethnien so häufig küssen wie die im „Westen“. Eine andere Theorie nimmt an, dass das Küssen sich aus dem Saugen an der Mutterbrust entwickelt hat.
Eine weltweite Kuss-Studie von u.a. Justin R. Garcia am Kinsey-Institut der Universittät Indiana/USA (J.R. Garcia et al: “Is the romantic-sexual kiss a near human universal?”, a.a.O.) untersuchte 168 Kulturen weltweit auf ihr Verhältnis zum Küssen. Dabei definierten die Forscher alle Küsse als „romantisch-sexuell“, bei denen es zu einem länger anhaltenden oder auch nur kurz dauernden „Lippen-auf-Lippen-Kontakt“ kommt. Küsse auf die Wange, die Stirn oder andere Körperteile wurden nicht betrachtet.
Garcia u.a. kam zu dem Ergebnis, dass von 168 untersuchten Kulturen nur bei 46 % das Küssen weit verbreitet war. Bei einigen Kulturen (v.a. in Afrika und Südamerika) galt Küssen als tabu, einige andere empfanden es als „eklig“ http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kuss-studie-weltweit-nicht-alle-wollen-knutschen-a-1044455.html) .
In Mittelamerika küssen sich Menschen in traditionellen Kulturen, z.B. den Mayas, gar nicht. Möglicherweise - schreiben Garcia et al. - sei der Kuss als sexuelles Vorspiel oder als Mittel der Partnerbindung generell erst beliebt geworden, als Menschen die Mundhygiene erlernt hatten.
Auch gibt es eine Fülle von Kuss-Varianten, die sich nicht mit dem Füttern erklären lassen, so spielen in Papua-Neuguinea beim Küssen die Wimpern eine wichtige Rolle. Den Nasenkuss als typische Eskimositte beschrieben haben wohl erstmals Herrnhuter Missionare, die seit 1733 in Grönland tätig waren. Vermutlich hatten sie beobachtet, dass unter den grönländischen Eskimos Mann und Frau zuweilen einander zärtlich mit der schnüffelnden Nase an der Wange, in der Halsschmiege und auch an der Nase berührten. Später wurde die Beobachtung von Völkerkundlern übernommen. Dieser Nasenkuss (oder auch Riechgruss) ist als ein erster Körperkontakt in verschiedenen Regionen Asiens (wie in Tibet, in Thailand oder in der Mongolei) aber auch z.B, bei den Maoris verbreitet (vgl. Bökemeier, 2004, a.a.O.)
Für einige Kulturathropologen ist der Riechgruß keine ethnische Variante des Küssens, sondern er entspringe dem Ritual des „Beschnüffelns“ seines Gegenübers. Bei dieem Ritual würden zur Begrüßung Stirn und die Nase vorsichtig angenähert: Die kurze Distanz zwischen den beiden Gesichtern gäbe ein besonderes Gefühl der Nähe. Die Häufigkeit des„Riechgrußes“ scheint aber rückläufig zu sein: Heute küssen wohl auch viele Eskimos (vgl. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/wissen-zum-valentinstag-du-weisst-doch-was-ein-kuss-bekennt-1413458.html).
Auch bei den nordostsibirischen Tschuktschen wurde (wird?) der Kuss (tschukt. ≙ „ukwet“) in der Regel als Nasenkuss praktiziert. Der tschuktschische Romancier Juri Rytchëu schildert in seinem 1911 spielenden und 1968 veröffentlichten Roman „Traum im Polarnebel“ den ersten Kuss zwischen John (einem Kanadier) und Pylmau (tschukt. ≙ „aufziehender Nebel“), einer tschuktschischen Frau: John zog sie lächelnd „… an sich und küsste sie auf den Mund … Überrascht starrte ihn Pylmau an, fuhr mit dem Finger über die Lippen und fragte zögernd: ‚Ist das der Kuss bei den Weißen?‘ ‚Jawohl‘ antwortete er. ‚Gefällt er dir etwa nicht?‘ ‚Es ist so komisch‘, meinte sie leise, ‚so als ob ein Kind nach der Mutterbrust sucht‘“ (Rytchëu, S. 199/200, a.a.O.).
Ganz ähnliches findet sich auch in Rytchëus im Jahre 2000 veröffentlichtem Roman „Der letzte Schamane – Die Tschuktschen-Saga“ (Unionsverlag Zürich 2015) bei dem Zusammentreffen des tschuktschischen Schamanen Mletlin und der US-Amerikanerin Sally. Diese beschwerte sich, dass er ja an ihr schnüffele. .
Der früheste literarisch belegte Kuss, meint der US-amerikanische Anthropologe in Austin/Texas Vaughn Bryant, findet sich in den Veden (um 1500 v. Chr.), in denen vom „Schnüffeln mit dem Mund“ gesprochen und beschrieben wird, wie Verliebte „Mund auf Mund setzen“.
Darstellungen auch von sich küssenden Paaren finden sich in den Tempeln von Khajuraho/Madhya Pradesh aus dem 10.-12. Jhdt., die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören.
Im Lateinischen wurde unterschieden zwischen dem freundschaftlichen Kuss auf die Wange („oscula“), dem der Liebenden auf den Mund („basia“), und dem leidenschaftlichen Zungenkuss, „suavia“ (vgl. FASZ, 11.02.2007, Nr. 6 / S. 14)
Einige Kuss-Forscher gehen zudem davon aus, dass sich das Küssen auch im „Westen“ zuerst in „höheren“ sozialen Schichten durchsetzte und von dort als Statusverhalten nach unten diffundierte. Alfred S. Kinsey stellte schon in den 40er Jahren des 20. Jhdts. fest, dass das Küssen in den USA schichtenspezifisch verschieden häufig praktiziert wurde, z.T. mehr oder weniger sogar tabu war (Kinsey, S. 486, a.a.O.). In „höheren“ gesellschaftlichen Schichten war der Lippenkuss „… eine fast unausbleibliche Begleiterscheinung (bei 99,6%) heterosexuller Beziehungen“ (Kinsey, S. 524, a.a.O.). Dagegen waren bei „niederen“ sozialen Schichten alle oralen Kontakte deutlich stärker tabuisiert.
Kuss-Forscher konnten eine ganze Reihe körperlicher Auswirkungen des Küssens feststellen, dabei ist darauf hinzuweisen, dass es immer ein psychosomatischer Simultangeschehen ist:
Küsse können allerdings auch Herpes, Corona oder Hepatitis übertragen oder sogar in einem allerdings seltenen anaphylaktischen Schock enden. Ein anaphylaktischer Schock ist eine allergische Reaktion in extrem starkem Ausmaß. Bei einem anaphylaktischen Schock wird der Botenstoff Histamin in sehr großen Mengen freigesetzt – mit lebensbedrohlichen Folgen. Es kommt zu einer schlagartigen Erweiterung der Blutgefäße und einem Zusammenziehen der glatten Muskulatur. Die Erweiterung der Blutgefäße führt zu einem drastischen Blutdruckabfall, u.U. zu einem Kreislaufversagen: Lebenswichtige Organe können nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt werden, was zum Tod führen kann.
Vielfach gilt das Pfeiffersche Drüsenfieber (Infektiöse Mononukleose, nach der ICD - Klassifikation B27) sogar als eine Art Kusskrankheit. Die verursachenden Viren (v.a. Epstein-Barr-Viren) werden u.a. durch Speichel übertragen. Die Symptome können variieren: Entzündete Lymphdrüsen in Bereichen wie Leiste, Hals und Achselhöhlen, Fieber und Müdigkeit, vergrößerte Milz, Halsschmerzen, Mandelentzündung, Schluckbeschwerden sowie kleinere Leberschäden mit kurzfristiger Gelbsucht.
Der Krankheitsname geht auf den deutschen Kinderarzt und Erstbeschreiber Emil Pfeiffer (1846–1921) zurück.
Höchst bedeutsam ist zudem die symbolische Ebene des Kusses, man denke nur an den Friedenskuss oder den Judaskuss. Schon in den Sprüchen Salomonis heißt es, „… die Küsse des Hassers sind trügerisch“ (Spr 27, 5).
Während der Corona-Pandemie wurde in vielen katholischen Gemeinden das Küssen des Kruzifixes oder von Reliquien verboten.
In der orthodoxen Kirche ist noch heute der Osterkuss üblich, woraus auch der Bruderkuss z.B. im „Ostblock“ entstand.
In der christlichen Kunst ist der Judaskuss sicher der meistdargestellte Kuss. V.a. seit dem Jugendstil wurden Küsse oft dargestellt. Berühmte Küsse in der Kunst stammen z.B. von Gustav Klimt, Francesc Hayez, Henri de Toulouse-Lautrec, Franz von Stuck, Peter Behrens, Edvard Munch, Käthe Kollwitz, Auguste Rodin oder Pablo Picasso.
Lippenstiftmuseum, Berlin 10717, Helmstedter Str. 16;
(unveränderlich, nach dem Gregorianischen Kalender)
© Christian Meyer