Darstellung von Siegfrieds Ermordung aus der Handschrift k des Nibelungenlieds (1480–1490); Abb- aus https://de.wikipedia.org/wiki/Nibelungenlied

 

 

29. Juni 1755:  Wiederentdeckung des Nibelungen-Liedes

 

Der aus Lindau stammende Arzt, Philosoph und Schriftsteller Jacob Hermann Obereit (1725 - 1798), der von der altdeutschen Lyrik begeistert war, erhielt an diesem Tag Zutritt zur Schlossibliothek in Hohenems/Vorarlberg. Nach nur kurzer Suche fand er dort 2 alte eingebundene pergamentene Codices von altschwäbischen Gedichten (zit. n. Thiefenthaler, S. 300, a.a.O.), wie er an seinen Freund, dem Schweizer Philologen Johann Jakob Bodmer (1698 – 1783) schrieb. Eines der Manuskripte war das noch völlig unbekannte Nibelungenlied (die sog. Handschrift C), die heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe aufbewahrt wird. Literaturgeschichtlich bedeutsam war Bodmers Anteil an der Wiederbelebung und Popularisierung der mittelhochdeutschen Dichtung. Umgekehrt betrog er aus egoistischen Gründen Obereit, den wirklichen Entdecker der Nibelungen-Handschrift, um diese Ehre.

 

Das Nibelungen-Lied entstand um 1205 im südöstlichen Deutschland, der (oder die) Dichter des Strophenepos blieben bis heute anonym. Der Titel Der Nibelunge t“ entstammt den letzten Worten der Dichtung (vgl. Golther, S. 179, a.a.O.).

 

Aus der XVI. Âventiure, 979 - 981, vgl. Golther, S. 93, a.a.O.):

 

„Der brunne war küele,             lûter unde guot.

Gunther sich dô neigte              nider zuo der fluot

als er hete getrunken,                do rihte er sich von dan,

alsam het ouch gerne                der küene Sîfrit getan.

 

Do engalt er siner zühte,           den bogen und daȥ [1] swert,

daȥ truoc alleȥ Hagene              von im danewert [2].

Dô sprang er hin widere            da er den gêr vant.

er sach nâch einem bilde           an des küenen gewant.

 

Dâ der herre Sîfrit                     ob den brunnen tranc,

er schôȥ in durch daȥ kriuze,    daȥ von der wunden spranc

daȥ bluot im von dem herzen   vast an die Hagene wât [3].

sô groȥe missewende [4]                ein helet nimmer mêr begât [5]“,

 

Die Verse der XXXIX. Âventiuren des Nibelungen-Liedes bestehen jeweils aus 4 Strophen, die immer in der Mitte eine Zäsur haben. Die 1. und die 2. Zeile reimen sich. ebenso wie die 3. und 4. Zeile.

In der erfolgreichsten neuhochdeutschen Übersetzung von 1827 des deutschen Schriftstellers und Philologen Karl Simrock (1802 – 1876) lauten die obigen Verse (mit anderer Zählung):

 

 

„Der Brunnen war lauter, | kühl und auch gut;

Da neigte sich Gunther | hernieder zu der Flut.

Als er getrunken hatte, | erhob er sich hindann:

Also hätt auch gerne | der kühne Siegfried gethan.

 

 

Da entgalt er seiner höfschen Zucht; | den Bogen und das Schwert |

Trug beiseite Hagen | von dem Degen werth.

Dann sprang er zurücke, | wo er den Wurfspieß fand,

Und sah nach einem Zeichen | an des Kühnen Gewand.

 

 

Als der edle Siegfried | aus dem Brunnen trank,

Er schoß ihn durch das Kreuze, | daß aus der Wunde sprang

Das Blut von seinem Herzen | an Hagens Gewand.

Kein Held begeht wohl wieder | solche Unthat nach der Hand“.

   

 

© Christian Meyer
(unveränderlich, nach dem Gregorianischen Kalender)

[1] mhd. ȥ entspricht  ca. dem ß, es wurde gelispelt

[2] mhd. hinweg

[3] mhd. Kleidung, Rüstung

[4] mhd. Unrecht, Schandtat  

[5] mhd. beging

 

 

Abbn.: Die Siegfried-Quelle bei Wahlen im Odenwald. Da die Quelle versiegte, wird sie seit 1951 von der kommunalen Wasserleitung gespeist. Um die Ehre der wahren Siegfriedquelle konkurrieren aus touristischen Gründen insgesamt acht Quellen (bzw. Brunnen) in der Region. Neben dieser Quelle wurde 1851 ein gotisierendes Steinkreuz (unten) errichtet, das den mittelhochdeutschen Text der Strophe 981 des Nibelungen-Liedes widergibt (Photos: Christian Meyer, März 2022).