Abb. oben: Stuttgarter Hauptbahnhof (Photo aus dem "Tagesspiegel")

 

6. Dezember 1877

 

Geburtstag von Paul Bonatz (1877 – 1956)

 

Der bis zum Jahre 2010 halbvergessene deutsche Architekt und Architekturlehrer der Frühmoderne Paul Bonatz ist ein Mitbegründer der „Stuttgarter Schule“.

Ins öffentliche Gedächtnis zurückgerufen wurde Bonatz zum einen durch die Auseinandersetzungen um den Teilabriß des Stuttgarter Hauptbahnhof („Stuttgart 21“) sowie die Ausstellung zu seinem Leben und Werk im Deutschen Architekturmuseum zu Frankfurt am Main, „Leben und Bauen zwischen Neckar und Bosporus“ (Januar – März 2011).

Der Stuttgarter Hauptbahnhof, errichtet von 1911 – 28, kann als Hauptwerk von Paul Bonatz angesehen werden und ist gegenwärtig durch den Teilabriss akut gefährdet. Auf den ersten Blick wirkt der monumentale Hauptbahnhof mit seinen massiven Säulen, der wuchtigen Fassade und den Natursteinen zwar „präfaschistisch“, bei genauerem Hinsehen aber ist er alles andere als „völkisch“. Mit seinem Flachdach und vor allem seinen Iwan – artigen Eingängen [1] zeigt er ganz andere Einflüsse.

Im Jahre 1913 unternahm Bonatz eine Reise nach Ägypten, die altägyptische, die babylonische und die muslimisch – orientalische Architektur bewirkten bei ihm deutliche Umplanungen für den Bahnhofsbau. Nicht umsonst überschrieb die Berliner Kulturjournalistin Christina Tilmann ihren diesbezüglichen Artikel im „Tagesspiegel“ mit „Gleisanschluss Babylon“ (vgl. Tagesspiegel, 23. Januar 2011, S. 25).

 

1918 während der Novemberrevolution war Bonatz im Stuttgarter Arbeiter- und Soldatenrat aktiv.

Die Überlieferungen erlauben den Schluss, dass Bonatz durchaus kein Nazi war, im Gegenteil. Er hatte 1932 in Stuttgart einen deutsch – jüdischen Assistenten, den er gegen „…. Anwürfe nationalsozialistischer Kollegen verteidigte“ (vgl. Tagesspiegel“, 23. Januar 2011, S. 25).

Nach der Machtübergabe an Hitler 1933 äußerte Bonatz im schweizerischen Basel, Hitler habe Deutschland um hundert Jahre zurückgeworfen. Ein Denunzinat hinterbrachte diese Äußerung der Gestapo, Bonatz wurde daraufhin von der Gestapo verhört.

In der Folge arrangierte sich Bonatz mit dem NS-System, machte aber keineswegs einen Karrieresprung. Der Bau der Neckarstaustufen oder von Autobahnbrücken [2] scheinen für ihn eher ein Notbehelf gewesen zu sein.

1936 schrieb er in einem Brief an einen Freund: „Für unsereinen gibt es nur eine Sache, derentwegen wir alles bisherige preisgeben: das sind die Aufgaben“ (vgl. Tagesspiegel“, 23. Januar 2011, S. 25) – ein verräterischer, opportunistischer Satz.

Später arbeitete er allerdings auch an den Planungen von Albert Speer mit, zum Beispiel entwarf Paul Bonatz einen gigantischen neuen (nie gebauten) Hauptbahnhof für München, mit einer riesigen Kuppel. Später äußerte sich Bonatz zu diesem Gigantismus sehr kritisch

1944 blieb er am Ende eines genehmigten Türkei – Aufenthaltes dort und beantragte Asyl.

Es bleibt allerdings fraglich, ob das späte Exil in der Türkei „… tatsächlich Widerstand oder die Flucht vor einem absehbaren Kriegsende“ war (vgl. Tagesspiegel“, 23. Januar 2011, S. 25).

Circa ein Jahrzehnt blieb er in der Türkei und arbeitete dort als einflussreicher Architekt (u.a. entwarf er die Oper in Ankara) und Hochschullehrer.

 

Bonatz kehrte erst nach Deutschland, nach Stuttgart zurück, als ihm – wie allen anderen ausländischen Architekten in der Türkei – die Arbeitsmöglichkeiten administrativ genommen wurden.

Nach Deutschland zurückgekehrt setzte sich Bonatz deutlich für den Erhalt des Neuen Schlosses in Stuttgart ein.

 

Christina Tilmann urteilt im „Tagesspiegel“ zusammenfassend, Bonatz’ Bauten seien beides, sowohl modern als auch konservativ, in ihrer Vielfalt aber faszinierend (vgl. Tagesspiegel“, 23. Januar 2011, S. 25). 

 

(unveränderlich nach dem Gregorianischen Kalender)

 

 © Christian Meyer



[1]  Der Iwan (auch Aiwan oder Liwan) ist ein Architekturelement insbesondere im persischen, ostislamisch - zentralasiatischen Raum. Ein Iwan ist eine Halle, die an drei Seiten geschlossen und an der vierten, der Vorderseite bis oben gänzlich offen gelassen, mit einer portalähnlichen Öffnung versehen ist. Die Halle selbst ist meist eingewölbt, sie wirkt aber als ein Zwischending, ein Übergangsbereichen zwischen Außen- und Innenraum, auch zwischen privat und öffentlich. Der eigentliche Iwan im engeren Sinne ist die Vorzone der Halle, entstanden vermutlich  aus einem geschmückten Portal, das tiefer strukturiert und schließlich zu einer offenen, die übrigen Bauelemente weit überragenden Nische wurde.

Sehr oft öffnet sich der Iwan zu einem Innenhof mit einem Garten und einem zentralen Wasserbecken. Der Iwan funktioniert so auch als schattiger, geschützter Ort im Halbfreien. Bei Wohnhäusern st er oft nach Norden ausgerichtet, als schattenspendender Aufenthaltsraum besonders im heißen Sommer.

Charakteristisch sind Vier – Iwan – Anlagen, um einen rechteckigen Innenhof angeordnet Dieser Bautyp findet sich bei vielen Moscheen, Medresen oder auch Karawansereien in Iran und Zentralasien. In Medresen wurden Iwane gerne als Unterrichtsraum, bei Moscheen auch als Gebetsraum benutzt.

Die ursprüngliche Herkunft des Iwans ist umstritten, orientalisch oder zentralasiatisch. Schon in Tell Halaf (im heutigen Ost - Syrien, nahe der türkischen Grenze) soll es Iwan-ähnliche Bauformen gegeben haben, im 9. Jhdt. vor Christus.

Der größte noch erhaltene Iwan (Hauptiwan ca. 30 m hoch und 43 m tief) wurde von den persischen Sassaniden in ihrer Hauptsadt Ktesiphon errichtet. Der gewaltige am Ostufer des Tigris wahrscheinlich unter Chosrau I. (reg. 531-579) errichtete Palast wird heute Taq-e Kisra genannt. Hier wurde der Iwan zum Vorhof der offenen Thronhalle, zum architektonischen Machtsymbol (vgl. auch Christian Meyer, Horror vacui….). 

Iwane schmücken die vier Seiten des Tadj Mahal in Agra, iwanartig öffnen sich die Eingänge z.B. des „Tacheles“ in Berlin – Mitte oder die Eingänge des Einkaufzentrums „Schloß“ in Berlin - Steglitz.

[2] Auch die ursprüngliche Autobahnbrücke über die Elbe an der Autobahn von Berlin nach Leipzig stammte von Paul Bonatz, die Brücke, deren auffälliger Turm lange Jahre die Aufschrift trug: „Plaste und Elaste aus Schkopau“. 

Vorhalle des Stuttgarter Hauptbahnhofes
Vorhalle des Stuttgarter Hauptbahnhofes