26. April 1336: Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux
Schon Jacob Burckhardt, der Schweizer Kulturhistoriker (1818 - 1897), betonte, dass „… die Italiener ... die frühesten unter den Modernen (seien), welche die Gestalt der Landschaft als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenommen und genossen haben“ (vgl. Burckhardt, 1953, S. 136, a.a.O.).
Ein Wandel in dem Naturempfinden scheint erst in der frühen Renaissance einzusetzen. Am 26. April 1336 bestieg der junge Dichter Francesco Petrarca (1304 – 1374) zusammen mit seinem jüngeren Bruder und zwei im letzten Rastort Malaucène angeworbenen Dorfbewohnernden Mont Ventoux [1] , ein für das späte Mittelalter ungewöhnliches, wenn nicht einzigartiges Unternehmen.
Petrarcas Sicht auf die Natur war neu, er überwand die symbolische Landschaftserfahrung des Mittelalters. Der fromme gebildete Mensch des Mittelalters glaubte in der Regel, eine geistige Heimat gäbe es nur in Gott.
Eitle, sündige Neugier sei es, Geheimnisse der Natur selbst ergründen zu wollen, um Erkenntnisse zu gewinnen, las man in der Bibel, bei den Kirchenvätern oder den antiken Autoren nach.
„Innovativ“ war die Wanderung Petrarcas, weil sie freiwillig, ohne festen, praktischen Zweck, aus bloßer Neugierde unternommen wurde. Wie er selbst schrieb trieb ihn „… einzig die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen" (vgl. Fassmann, S. 64, a.a.O.). Nur um des Naturerlebnisses willen, wurde der Berg bestiegen, aber: „Planloses Bergsteigen war nämlich in seiner (Petrarcas, C.M.) Umgebung etwas Unerhörtes“ (Burckhardt, 1953, S. 138. a.a.O.).
Allerdings soll Petrarca nach eigener Aussage durch die Lektüre des Livius zu der Bergbesteigung angeregt worden sein: König Philipp von Makedonien soll – wie Livius berichtet – denBerg Haemus in Thrakien bestiegen haben, und „-… was bei einem königlichen Greise nicht getadelt wurde, sei auch bei einem jungen Mann aus dem Privatstande wohl zu entschuldigen“ (vgl. Burckhardt, 1953, S. 138, a.a.O.). Die antike Tradition musste im Bewusstsein Petracas noch zur Rechtfertigung seiner Unternehmung herhalten!
Dann, am Fuße des Mont Ventoux, „… beschwor sie ein alter Hirte umzukehren; er habe vor fünfzig Jahren dasselbe versucht und nichts als Reue, zerschlagene Glieder und zerfetzte Kleider heimgebracht; vorher und seitdem habe sich niemand mehr des Weges unterstanden“ (vgl. Burckhardt, 1953, S. 138, a.a.O.).
Jedoch lässt sich Petrarca nicht aufhalten und mit großen Mühen besteigen sie den Berg. Etwa auf der Höhe von 1000m erfolgt bei dem Mont Ventoux der Übergang zu ausgedehnten Geröllfeldern. „Merkwürdigerweise fiel Petrarca, der doch landschaft so beredt zu überhöhen wusste, zur belebten Natur nichts ein. Kein Wort verliert er über den Wechsel der Vegetationszonen, die Tier- und Pflanzenwelt. Petrarca trug den Kopf vermutlich zu hoch, um den Blick dafür zu haben“ (vgl. Thomas F. Klein, S. R1, a.a.O.).
Nach großen Anstrengungen erreicht die Gruppe schließlich den Gipfel [2] . „Eine Beschreibung der Aussicht erwartet man nun allerdings vergebens, aber nicht weil der Dichter dagegen unempfindlich wäre, sondern im Gegenteil, weil der Eindruck allzu gewaltig auf ihn wirkt“ (vgl. Burckhardt, 1953, S. 138, a.a.O.).
Petrarca bedenkt in dieser Situation – auf dem Gipfel des Berges – sein bisheriges Leben, seine Studien in Montpellier und Bologna, das Verlassen Italiens, in dessen Richtung am Horizont er sehnsuchtsvoll blickt. Nun aber schägt er – orakelhaft – die „Bekenntnisse“ Augustins auf und kommt genau an folgende Stelle: „Und die Menschen gehen ihres Wegs und bewundern die Gipfel der Berge, die ungeheure Flut des Meeres, das Abwärtsfließen der breiten Ströme, den Ozean mit seiner unermeßlichkeit und die Kreisbahnen der Gestirne – von sich selbst jedoch entfernen sie sich mehr und mehr“ (Augustinus, 1963, 10, Buch, 8. Kapitel, S. 213, a.a.O.).
Sein jüngerer Bruder, „… dem er diese Worte vorliest, kann nicht begreifen, warum er hierauf das Buch schließt und schweigt“ (Burckhardt, 1953, S. 138, a.a.O.) – für ihn war es ein „kathartisches Gipfelerlebnis“ (vgl. Thomas F. Klein, S. R1, a.a.O.). Denn für Augustinus war die Bewunderung der Schönheiten der Welt nichts als sündige Eitelkeit, die von dem Wesentlichen, dem Heil der Seele, ablenkte.
Fassmann meinte, Petrarca habe auf dem Mont Ventoux „sein Damaskus“ erlebt (vgl. Fassmann, S. 45, a.a.O.).
Jedoch beschrieb Petrarca später reflektierend die Wanderung und seine Gefühle (die „Erregungen des Herzens") bei der Bergbesteigung mehrfach in seinen Kunstbriefen, insbesondere in dem Brief an seinen Freund Francesco Dionigi (vgl. Waggerl, a.a.O.). Der Brief Petrarcas gilt als die „erste große Naturbeschreibung der europäischen Literatur“ (vgl. Fassmann, S. 45, a.a.O.).
Schließlich äußerte sich mit Petrarca ein Individuum, er sieht das eigene raumzeitliche Erleben nicht mehr in einem göttlichen Zusammenhang aufgehoben. Manche Interpreten haben die Beschreibung von der Besteigung des Mont Ventoux so als die Geburtsstunde der modernen Subjektivität betrachtet [3]. Zumindest aber kann – ihre Faktizität vorausgesetzt – das Ereignis als erster literarisch dokumentierter Beleg einer Bergbesteigung um ihrer selbst willen angesehen werden.
Petrarca war hochgebildet, weitgereist, hatte vielfache Erfahrungen gesammelt, ein offener Weltbürger seiner Zeit, ein früher Humanist und fähig zu individueller Selbstbetrachtung – was zu seiner Zeit alles andere als selbstverständlich war. Allerdings zeigen seine Briefe – auch der über die Besteigung des Mont Ventoux – gleichzeitig ein deutliches Verhaftetsein Petrarcas in scholastischer Methodik und Denkweise, zum Beispiel seine vielfältigen uns heute irritierenden Zitatketten und „Zitatbeweise“
In „Meyers Konversationslexikon“ von 1890 ist zwar eine ausführliche, fünfspaltige Würdigung Petrarcas enthalten (vgl. Bibliographisches Institut, 12. Band, S. 916 ff.), aber die Besteigung des Mont Ventoux wird nicht mit einem Wort erwähnt. Hatten die Herausgeber damals noch nicht die Bedeutung dieses Ereignisses für die Naturbetrachtung und –empfindung erkannt?
Auch der „Provence“ – Band des Guide Michelin (erschienen 1965) berichtet zwar ausführlich vom Mont Ventoux und seiner Umgebung, erwähnt aber die historische Bergbesteigung durch Petrarca nicht.
(unveränderlich, nach dem Gregorianischen Kalender)
© Christian Meyer
[1] Der Mont Ventoux (der „windige Berg")ist ein1912 m hoher Gipfel in den Drôme-Alpen (Provence), ca. 45 Kilometer nordöstlich von Avignon. Der Berg steht völlig isoliert mit einem weitläufigen Hochplateau, das sich unmittelbar über dem Rhônetal erhebt. Der Guide Michelin sieht in dem Aufstieg auf den Mont Ventoux einen der schönsten Ausflüge in der Provence, das Panorama vom Gipfel sei „immens“ (Guide Michelin, S. 161, a.a.O.). Man erblickt das Rhône–Tal, die Alpilles, die Cevennen, die Alpen, die provenzalische Ebene, Marseille und den Etang de Berre, bei klarem Wetter ist sogar der Canigou sichtbar. Im Guide Michelin wird allerdings nicht an den Aufstieg Petrarcas erinnert. Dagegen wird in dem „Blauen Führer Frankreich“ auf die Besteigung durch Petrarca hingewiesen und sein Brief als einer „… der berühmtesten Berichte der alpinen Literatur“ gewertet (vgl. Ambrière, S. 462, a.a.O.). Bis heute gibt es in Malaucène keinen Petrarca – Tourismus, auch keinen Petrarca-Weg o.ä. (vgl. Thomas F. Klein, S. R1, a.a.O.).
[2] Petrarca und seine Begleiter müssten an diesem Tage ca. 2000m Höhendifferenz, ca. 40km Wegstrecke, damals z.T. durch urwaldähnlichen Wald, ohne gebahnte Wege bewältigt haben. Deshalb kamen immer wieder Zweifel an der Faktizität der Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 auf, zumal der Berg Ende April oft noch mit Schneee bedeckt ist und hohe Temperaturdifferenzen herrschen (vgl. Thomas F. Klein, S. R1, a.a.O.).
[3] In seinem Alterswerk „Über die Weltverachtung“ wird Petrarca allerdings später, im fiktiven Gespräch mit Augustinus , das eigene eitle, ruhmsüchtige Wesen, auch die ‚falsche Süßigkeit’ des Weltschmerzes und die troubadourhafte Liebe zu Laura als Hemmnis zur Gottesliebe beschreiben, das individuelle Selbstgefühl als Sündenfall, ganz im Geiste Augustins!
Im Jahre 2004 gab die vatikanische Post eine Gedenkmarke zu 60 Euro-Cent zum 700. Geburtstag Petrarcas heraus.