Insbesondere zum 200. Jubiläum im Jahre 2013 wurde Verdi in der gesamten Region gnadenlos vermarktet.
Casa natale in Roncole (Photo: Christian Meyer, Oktober 2013)
Widmung Verdis an Erzherzogin Adelaida von Österreich für die Oper „Nabucco“
10. Oktober 1813
Am 10. Oktober 1813 (teilweise wird auch der 9. Oktober angegeben) wurde Giuseppe Verdi im Dorf Roncole[1] (im damaligen Herzogtum Parma) geboren. Seine - analphabetischen ?– Eltern betrieben einen kleinen Dorfladen, eine Landwirtschaft und gleichzeitig ein Gasthaus.
Die US-amerikanische Verdi-Forscherin Mary Jane Phillips-Matz [2] hielt allerdings die arme Herkunft Verdis für einen Künstler-Mythos: Verdis Vater habe über einen ansehnlichen Landbesitz verfügt und konnte zudem – im Gegensatz zu den damaligen 90 % Analphabeten in Italien – Lesen und Schreiben (Phillips-Matz, a.a.O.).
Das Geburtshaus Verdis in Roncole (Casa natale) ist erhalten und beherbergt heute ein Verdi-Museum.
In der Dorfkirche Roncoles wurde er getauft. Vor durchziehenden russischen und französischen Soldaten flüchtete Verdis Mutter 1814 in der kriegerischen Zeit nach seiner Geburt auf den Glockenturm der Kirche und versteckte sich und das Kind dort.
In dem Gasthof der Eltern soll ein altes Klavier gestanden haben, darauf spielte er und erhielt ersten Musikunterricht vom Küster des Dorfes. Er spielte auch auf der Orgel der Dorfkirche. In Roncole wurde Verdi auch als Organist angestellt
Der junge Giuseppe hatte das Glück, von dem wohlhabenden Kaufmann Antonio Barezzi (1787 – 1867) in der benachbarten Stadt Busseto mäzenatisch gefördert zu werden. 1831 zog Verdi nach Busseto und wohnte im Hause von Barezzi. Heute ist die „Casa Barezzi“ in Busseto das „Museo Verdiano“. U.a. wird dort das Fortepiano ausgestellt, an dem Verdi Teile der Oper „I due Foscari“ (nach Lord Byron,1844 in Rom uraufgeführt) komponierte.
Durch Barezzis Unterstützung konnte Verdi das Gymnasium besuchen und in Busseto und Mailand studieren. Zum Konservatorium in Mailand sollte er zwar ein Stipendium erhalten, wurde allerdings nicht zugelassen, da er zu alt war. Verdi erhielt in Mailand Privatunterricht bei Vincenzo Lavigna (1776 – 1836), dem Konzertmeister und Cembalisten der Scala.
Inwieweit die Verhältnisse, aus denen Verdi stammte, wirklich ärmlich waren – immerhin investierte auch der Vater in die Bildung des jungen Giuseppe – ist schwer zu entscheiden. Vielleicht sind Überlieferungen dieser Art auch ein Teil des Geniekultes des 19. Jhdts.
1836 wurde Verdi „Maestro di Musica“, städtischer Musikdirektor in Busseto. Frühzeitig fing Verdi an, Opern zu komponieren, die allerdings anfangs durchfielen. Im Jahre 1836 heiratete Verdi die Tochter seines Förderers Barezzi, Margherita. Allerdings starben Margherita und ihre beiden Kinder bereits 1840.
Der erste große Erfolg kam 1842 mit der Oper „Nabucco“, das Libretto hatte übrigens Otto Nicolai abgelehnt. „Nabucco“ wurde an der Scala in Mailand uraufgeführt und machte den jungen Komponisten schlagartig bekannt. In der folgenden Spielzeit der Scala wurde Nabucco 57mal aufgeführt. „Dies ist die Oper, mit der in Wahrheit meine künstlerische Laufbahn beginnt", schrieb Verdi später über „Nabucco". Auch privat brachte ihm die Oper Glück: Giuseppina Strepponi, die erste Abigaille, wurde später seine zweite Frau [3]. Bei Verdis Beerdigung 1901 stimmten Tausende Trauergäste noch einmal in den Gefangenenchor aus „Nabucco" ein.
Mit der Oper „Macbeth"(1847) schaffte er den europäischen Durchbruch (vgl. Meier, a.a.O.). 27 Opern schrieb Verdi insgesamt.
Verdi komponierte in den frühen Jahren wie am Fließband, war wohl immer im Stress, gereizt und oft krank (vgl. Meier[4], a.a.O.). Häufig hielt er sich in Paris auf, oft auch in Wien, reiste zudem nach London, Dresden, St. Petersburg und (kurz) nach Berlin. Selbst sprach er von seinen „Galeerenjahre" [5]1842-1851, in denen Verdi vierzehn Opern schrieb. Es fragt sich jedoch, inwieweit diese sich nicht auch einer gewissen Raffgier verdanken, oder aber einer basalen Angst vor sozialem Abstieg. Jedenfalls erwarb Verdi nicht einen „bescheidenem Wohlstand" sondern ein erkleckliches Vermögen. Für seine (wahrscheinlich) erste Oper „Oberto, conte di Bonifacio“ erhielt Verdi 1839 eine Gage von 1750 Franken, für die „Aida“ (1871)forderte und erhielt Verdi ein Honorar von 150.000 Franken (d.h. rund 4 Mio. €): 50 000 Franken bei Vertragsabschluss, 100 000 Franken bei der Übergabe der fertigen Partitur an den Beauftragten des Khediven Ismail Pascha [6], zahlbar auf die Bank Rothschild in Paris (Dutronc, S. 5, a.a.O.). Aida komponierte Verdi zu einem Teil im Arbeitszimmer der Villa Verdi in Sant’Agata. Aida blieb bis heute eine der meistgespielten Opern der Welt.
Im Jahre 1848 begann Verdi - nach Busseto zurückgekehrt - umfangreichen Grundbesitz in Sant' Agata (nur wenige Kilometer von Roncole entfernt) zu erwerben; allmählich wuchs sich dies zu einem Großgrundbesitz, seinem Alterssitz aus, heute die „Villa Verdi“: Ca. 1000 ha, mit großem an die Villa angrenzenden Park, mit vielen auch exotischen Pflanzen, künstlich angelegten Teichen etc.
Verdi selbst sagte immer wieder, er sei eigentlich ein Bauer, faktisch aber war er ein Großgrundbesitzer geworden. Allerdings machte Verdi Sant’Agata zu einer Art Mustergut: Die Landarbeiter sollen anständig bezahlt worden sein, erhielten Zugang zu Krankenversorgung und Bildung. Es wurden moderne Ackerbaumethoden eingeführt, Faktoreien eingerichtet und eine Molkerei, die allerdings nur Verluste brachte.
In seinem Alter zeigte sich Verdi als ausgesprochen sozial denkend und philanthropisch handelnd. Er stiftete – zum Andenken an die 1897 verstorbene Giuseppina Strepponi – in Mailand (an der Piazza Buonarroti) ein Altersheim für Musiker, die „Casa Verdi“ (La Casa di Riposo per Musicisti). Sie ist noch heute in Betrieb. Auf die Frage, was seiner Meinung nach sein bestes Werk sei, soll Verdi geantwortet haben: „Das Altersheim in Mailand“ [7] (vgl. Meier, a.a.O.).
Zudem stiftete Verdi schon 1888 in Villanova sull’Arda (Provinz Piacenza, nahe der Villa Verdi) ein „Spital für mittellose Kranke“ (heute Ospedale Giuseppe Verdi) sowie weitere Pflegeheime und Krankenhäuser in anderen italienischen Städten. Die US-amerikanische Verdi-Forscherin Mary Jane Phillips-Matz errechnete dass Verdi bis zu seinem Tode eine Summe von 23 Mio. US-$ philanthropischen Zwecken widmete (Phillips-Matz, a.a.O.).
Am 27. Januar 1901 starb Giuseppe Verdi 87jährig nach längerer Krankheit. Obwohl Verdi keine Trauerfeier gewollt hatte, proklamierte der italienische König Vittorio Emanuele III. (reg. 1900 – 1946) eine dreitägige Staatstrauer. In Mailand folgten mehr als 200 000 Menschen dem Trauerzug mit den Leichnamen Giuseppe Verdis und seiner Frau Giuseppina Strepponi zu der Gruft der Mailänder „Casa di Riposo“, wo beide bestattet wurden. Es sang der junge Caruso, Toscanini dirigierte mit 820 Sängern – den Gefangenenchor. Diese Beerdigung war die größte Massenversammlung in der Geschichte Mailands.
Verdi wurde zu einem italienischen Mythos, zur Inkarnation einer behaupteten Volksseele, einfach, schlicht, bäuerlich-rustikal, emotional, pathetisch und heimatverbunden [8].
Der 17-jährige Schüler Benito Mussolini hielt zu Verdis Totenfeier eine Trauerrede vor dem Kollegium der Lehrerbildungsanstalt, im Stadttheater von Forlimpopoli in der Emilia-Romagna, in Verdis Heimatregion. Die Rede war einer der ersten Karriereschritte Mussolinis, sogar der Mailänder „Avanti“ erwähnte die Rede des Schülers. Elf Jahre später war Mussolini Chef der sozialistischen Zeitung.
Mussolini inszenierte sich als Musikkenner und –liebhaber (er spielte Geige), versuchte zudem am Prestige Verdis zu partizipieren. Pietro Mascagni (1863-1945) wurde zu dem Komponisten des italienischen Faschismus; er trat der Partei bei und komponierte 1928 die „Hymne der Jugend“.
Im Jahre 1932 äußerte sich Mussolini über Musik und Verdi: „In der Sprache ist die Musik international, in ihrem innersten Wesen aber ganz national. Ich halte sie sogar für den tiefsten Ausdruck einer Rasse. Das geht bis zur Ausführung. Verdi wird von uns nur besser gespielt, weil wir ihn im Blut haben. Hören Sie Toscanini [9] , den größten Dirigenten der Welt“ (zit. n. Beltz, a.a.O.).
Generell lassen sich beim italienischen Faschismus Tendenzen zu opernhaften Auftritten feststellen. Englische Musikkritiker behaupteten sogar, „Mussolinis Welt habe wie die Opern Verdis aus Liebe, Sex und Gewalt bestanden“ (vgl. Beltz, a.a.O.).
Verdi und das Risorgimento
Auch nach dem Wiener Kongress 1814/15 blieb Italien in eine Reihe von Klein- und Mittelstaaten aufgespalten, die Lombardei und Venetien gehörten direkt zum Kaiserreich Österreich. Die Toskana und Modena waren habsburgische Sekundogenituren, gestützt v.a. auf österreichische Waffen.
Das Herzogtum Parma – die Heimatregion Verdis - wurde bis zu ihrem Tode im Jahre 1847 von Marie-Louise von Österreich (der Witwe Napoleons) beherrscht. Nach ihrem Tode kam wieder die Dynastie Bourbon-Parma an die Regierung. Mehrfach kam es zu Verdis Lebzeiten zu Aufständen, so 1820 in Neapel, 1821 in Piemont, 1831 in Modena, Parma und im Kirchenstaat. Alle diese Aufstände scheiterten, vor allem durch österreichische Interventionen.
Im Januar 1848 begann in Oberitalien, v.a. in Mailand ein „Zigarrenstreik“, um die Einnahmen des österreichischen Fiskus zu reduzieren (vgl. Altgeld, S. 283, a.a.O.). Es folgten 1848/49 revolutionäre Bewegungen in ganz Italien, die aber schließlich erneut mit Waffengewalt niedergeschlagen wurden. Auch Aufstandsversuche in Mailand scheiterten im Februar 1853 und Juni 1857.
Die letzte regierende Herzogin Louise Marie musste 1859 flüchten, Parma wurde 1860 Teil des Königreichs Italien.
Vielfach wurde der Erfolg von Verdis 1842 in Mailand uraufgeführtem „Nabucco“ damit erklärt, dass die Zuhörer die in der Oper dargestellten Klagen des jüdischen Volkes über seine Unterdrückung und die Thematisierung seiner Freiheitssehnsucht auf die zeitgenössische politische Lage des zersplitterten und vielfach fremdbestimmten, v.a. österreichisch dominierten Italien übertragen wurden. Frühzeitig wurde Verdi zum musikalischen Vorkämpfer des Risorgimento (ital. „Wiederentstehen“ [10]), der italienischen Einigungsbewegung seit dem Beginn des 19. Jhdts. erklärt.
Werfel nannte „Nabucco“ die Oper, „… die durch ihren sakralen Herzensklang das italienische Publikum aus seinem süßen Schlendrian riss“ (Werfel, 1979, S. 27, a.a.O.). Die Oper wurde trotz der „religiösen Handlungen“ - in der Sicht von Guido Adler - verstanden als „feurige Ausbrüche“ von „Patriot zu Patrioten“, als Aufforderung „… zur politischen Einigung Italiens“ (Adler, S. 910, a.a.O.).
Insbesondere der Chor „Va pensiero sull'ali dorate“ (Fliege Gedanke auf goldenen Schwingen) der in Babylon gefangenen Juden entwickelte sich – später - zur einer Art zweiten italienischen Nationalhymne, auch zur Hymne des Risorgimento. Auch die Zeile „Oh mia patria si bella e perduta!“ – Mein Vaterland, so schön und so verloren – hatte Signalwirkung.
„Nabucco“ wurde überall in Italien mit enormem Erfolg gespielt, bald auch in vielen Ländern Europa.
Nach der anekdotischen Überlieferung hätten die Zuschauer bei der Uraufführung des „Nabucco“ nach dem Gefangenenchor spontan eine Wiederholung des Stücks gefordert (und erhalten), obwohl es ein von der österreichischen Administration erlassenes Wiederholungsverbot gab. Dieser Akt zivilen Ungehorsams sei eine kleine, harmlose Widerstandshandlung gegen die Fremdherrschaft gewesen.
Tatsächlich aber stellten Musikwissenschaftler fest, dass die Wiederholung bei der Uraufführung sich gar nicht auf den Gefangenenchor bezog, sondern auf den Chor „Immenso Jehova“ im 4. Akt der Oper – die Mythisierung begann frühzeitig.
Dabei hatte Verdi den „Nabucco“ am 31. März 1842 einer Vertreterin der „Fremdherrschaft“ gewidmet: Maria Adelaide von Österreich (1822 – 1855), einer Nichte der österreichischen Kaisers Franz II. Sie heiratete bald darauf den sardinischen Thronfolger Vittorio Emanuele, der später der erste König von Italien wurde. Dass Nabucco und der Gefangenenchor „Va pensiere…“ irgendetwas mit dem Risorgimento zu tun hätten, gehört – wie Birgit Pauls zeigte – ins Reich der „politischen Mythen“ (Pauls, S. 213 f. a.a.O.).
In den 30er Jahren des 20. Jhdts. ließ die faschistische Organisation „Dopolavoro“ (das italienische Vorbild der KdF) in Anwesenheit Mussolinis durch Pietro Mascagni vor ca. 7000 Arbeitern den Gefangenenchor aufführen.
Die Österreicher verboten Verdis Oper „I Lombardi alla prima crociata“ (Die Lombarden auf dem 1. Kreuzzug, 1843 in der Scala uraufgeführt), „… als sie den aktuellen politischen Gehalt dieses historischen Themas begriffen“ (Altgeld, S. 278, a.a.O.). Dabei hatte Verdi diese Oper der (habsburgischen) Herzogin Marie Louise von Parma gewidmet [11].
„La Battaglia di Legnano“ (Die Schlacht von Legnano) kann als (einzige) wirkliche Oper des Risorgimento angesehen werden. Thema der Oper ist ein Eifersuchtsdrama auf dem Hintergrund des Krieges der (guelfischen) Lombardischen Liga um Mailand gegen die Ghibellinen unter Kaiser Friedrich Barbarossa. Der Kaiser, der in der Oper auftritt, erlitt in der namensgebenden Schlacht 1175 eine deutliche Niederlage.
Uraufgeführt wurde die Oper 1849 in Rom im Teatro Argentina, der gesamte 3. Akt musste wiederholt werden, da die Zuschauer so begeistert waren: Assoziiert wurde die Opernhandlung naturgemäß mit der aktuellen politischen Situation, mit dem Kampf gegen die (noch) dominierenden Österreicher. Nur 13 Tage nach der Aufführung von „La Battaglia di Legnano“ in Rom erfolgte die Proklamation der (kurzlebigen) Römischen Republik im Februar 1849.
Später aber - nach der auch in Italien misslungenen, unterdrückten Revolution 1848/49 - wurde Verdis Name als Akronym: VERDI: „Vittorio Emanuele Re d’Italia“ – und dabei war Verdi – wie Garibaldi – Republikaner. Wie auch Werfel anmerkte, waren die „fünf Buchstaben“ in Verdis Namen zu „… zündenden Chiffren der italienischen Erhebung, (zum) Sinnbild geworden“ (Werfel, 1979, S. 15, a.a.O.) – für Verdis zunehmende Popularität ein nicht zu unterschätzender Faktor.
Unzählige Mauern und Wände in den österreichisch beherrschten Teilen Italiens wurden mit Graffiti „Viva Verdi“ (als Formel für Viva Vittorio Emanuele Re d’Italia) bedeckt – sehr zum Unwillen der Herrschenden.
Die österreichische Repression in Italien „… trug … wesentlich zur Nationalisierung der oppositionellen Kräfte bei“ (Altgeld, S. 257, a.a.O.).
Äußerst kritisch sahen die Zensoren den Fürstenmord im „Maskenball“ („Un Ballo in maschere“, Uraufführung 1859 in Rom) – das (anonym verfasste) Libretto von Antonio Somma wurde deshalb wegen des Drucks der Politik mehrfach verändert. So wurde die historische Vorlage – der Mord am schwedischen König Gustav III. – entschärft. Dennoch kam es in Neapel nicht wie geplant zur Uraufführung am Teatro San Carlo, da es zu Unruhen wegen der Einschränkung der künstlerischen Freiheit gekommen war. Aber auch in Rom gab es viele Probleme bevor die Oper mit einem triumphalen Erfolg aufgeführt werden konnte.
Eine der ersten Opern, die in Neapel nach dem Sturz der verhassten Bourbonen im September 1860 aufgeführt wurde, war „Un ballo in maschera“
Die blutigen Schlachtfelder von Magenta und Solferino 1859 führten schließlich nach dem abenteuerlich-heroischen Zug der 1006 „Rothemden“ Garibaldis 1860 nach Sizilien [12] und Neapel und mehreren regionalen Plebisziten im Frühjahr 1861 zur Proklamation des Königreiches Italien.
Die reale italienische Einigung unter Führung Piemonts und der anschließende Mangel an sozialen Fortschritten im Königreich enttäuschten viele „revolutionäre Demokraten“ (Werfel, 1979, S. 26, a.a.O.); generell wurden viele Vorkämpfer des Risorgimento desillusioniert, so die republikanisch gesonnenen Garibaldi oder auch Verdi. Nur knapp ein Drittel aller Italiener konnte in den 70er Jahren des 19. Jhdts. Lesen und Schreiben – in die Volksbildung aber investierte der neue Staat nur geringe Summen.
Premierminister Cavour bat Verdi für das erste gesamtitalienische Parlament zu kandidieren, für das allerdings nur 2-3 % der Bevölkerung ein Wahlrecht hatten (vgl. Altgeld, S. 291, a.a.O.). Unwillig ging Verdi darauf ein und wurde gewählt. Engagiert setzte er sich dann jedoch im Parlament für die Schaffung eines italienischen Copyrights ein, was die ökonomische Lage vieler Künstler deutlich verbesserte. 1874 wurde Verdi von König Vittorio Emanuele zum Senator auf Lebenszeit ernannt. (vgl. Ujma, a. a .O.).
Piemontesischer Zentralismus und Steuerbelastungen riefen „… massive Wellen sozialer Proteste und lokale Aufstände hervor“ (Altgeld, S. 259, a.a.O.).
Auch nach der Gründung des Königreiches Italien im Frühjahr 1861 blieben die enormen sprachlichen, sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Regionen Italiens erhalten. Die Sentenz des italienischen Schriftstellers, Malers und Politikers Massimo d'Azeglio (1797 – 1866) aus dem Jahre 1861 „Fatta l'Italia, bisogna fare gli italiani" (Italien wurde gemacht, nun muss man noch die Italiener machen) gilt wohl z.T. bis heute.
Im Mezzogiorno führte das Königreich „… eine Art Kolonialkrieg gegen das dortige Sozialrebellentum“ (Altgeld, S. 260, a.a.O.). Italien blieb in den ersten Jahrzehnten des Königreiches „… vornehmlich Sache einer dünnen Schicht von Besitzenden und Gebildeten, verschanzt hinter einem extremen Klassenwahlrecht“ (Altgeld, S. 260, a.a.O.).
Antonio Gramsci stellte in seinen „Gefängnisheften“ (a.a.O.) fest, dass in Italien die Oper die populäre Literatur, die Romane ersetzt habe, die Funktion einer „letteratura nazionale populare“ übernommen habe (Amodeo, S. 94, a.a.O.). Auch empfand er Verdis Opern gegenüber eine Abneigung, wegen deren „bürgerlicher Empfindsamkeit“ (vgl. Ujma, a.a.O.).
Generell diagnostizierte Gramsci eine „Opernhaftigkeit“ als eine „Konstante der italienischen Kultur seit Jahrhunderten“, die dem Massengeschmack entspräche (vgl. Amodeo, S. 106, a.a.O.).
Schon Goethe hatte eine opernhaft anmutende italienische Alltagskultur zu sehen geglaubt. In Italien gebe es - wurde vielfach angenommen - einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen der Oper, dem Theater und dem Alltagsleben: Theater ereigne sich nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Parkett und im Alltagsleben, z.B. bei einer Gerichtsverhandlung [13] .
Die Oper – in Italien einst eine Art Massenmedium - übernahm oft die Funktion, die heute Filme (bzw. das Fernsehen) inne habe.
Verdi und seine Musik-Entwicklung
Am Anfang seiner musikalischen Karriere wurde Verdi, „… weil seine Kunst im Gegensatz zur zeitgenössischen Virtuosenoper Italiens allzu rauh und tief erschien … maestro filosofo“ genannt, wie Werfel anführte (Werfel, 1979. S. 50, a.a.O.). Auch Eduard Hanslick, der zeitgenössische Wiener Musikkritiker, schrieb über Verdis frühe Oper „Ernani“: „Seine Physiognomie ist in dieser Oper zum ersten Mal ausgeprägt: jene Mischung von Energie und Leidenschaft, mit hässlicher Rohheit, welche wir Verdi’sch nennen“ (zit. n. „Berliner Zeitung“, 8. Oktober 2013).
Am 17. November 1839 erfolgte die Uraufführung von „Oberto, Conte de San Bonifacio“ an der Scala in Mailand. Verdi erhielt einen Kompositionsauftrag für drei weitere Opern. Die ersten Opern Verdis wurden zwar teilweise auch von anderen Opernhäusern gespielt, konnten sich aber nicht durchsetzen. Verdis Musik gilt bis heute vielfach als volkstümlich, aber durchaus schwierig zu singen.
Am 9. März 1842 wurde Verdis Oper „Nabucco“ (eigentlich „Nabuccodonosor“, „Nebukadnezar“) mit Giuseppina Strepponi (Verdis spätere zweite Frau) in der Rolle der Abigail in Mailand an der Scala uraufgeführt; u.a. besuchte Gaëtano Donizetti [14] diese sehr erfolgreiche Aufführung, Sie stellte sozusagen Verdis Durchbruch dar.
„Il Trovatore“ war Verdis erste Oper, die er ohne Auftrag schrieb; sie wurde im Januar 1853 im römischen Teatro Apollo uraufgeführt – mit „beispiellosem Erfolg“ (Haedler, a.a.O.). Riesige Menschenmengen drängten sich – hieß es in einem zeitgenössischen Bericht - am Tag nach der Uraufführung vor den Theatertüren und „… den ganzen Tag über hallten die Straßen Roms … von dem Namen dieses Caesars der Kunst wider: ‚Lang lebe Verdi, der größte Komponist, den Italien je gehabt hat‘“ (zit. n. Haedler, a.a.O.). Eine Aufführung des „Trovatore“ in Neapel scheiterte an Verdis hohen Honorarforderungen.
Oft – wurde überliefert – komponierte Verdi mit einem laufenden Metronom; es war anscheinend für ihn ein „stimulierendes Instrument“ (Werfel, 1979, S. 87, a.a.O.). In der Villa Verdi in Sant’Agata ist eines seiner Metronome erhalten geblieben.
Nicht nur Verdis Opern leben von dem dramatischen Gegensatz zwischen gefühlvoll – emotionalen Arien und Kantilenen und machtvoll – pathetischen Massenchören, so wie in Nabucco oder Aida.
Verdi selbst sah 1853 in einem Brief an den Schriftsteller, Komponisten und Musikverleger Giulio Ricordi [15] eine Diskrepanz zwischen einer „deutschen“, auf Instrumentation, Orchestrierung und Harmonik ausgerichteten Musik und einer „italienischen“, auf der „Liebe zum Gesang“ basierenden Musik (Verdi, in Seeger, S. 120, a.a.O.). Eine Orientierung an der „deutschen“ Musik würde in Verdis Sicht zum Verlust der Kantabilität und zum „Ende der Oper“ führen: „Wir können nicht komponieren wie die Deutschen oder sollten das doch nicht so tun, die Deutschen nicht so wie wir“ (Verdi in Seeger, S. 121, a.a.O.). Die Gegenüberstellung von „deutscher“ und „italienischer“ Musik erscheint künstlich und unzutreffend, Verdi vernachlässigte z.B. Schuberts Lieder oder die Kantabilität von Carl Maria von Weber.
In einem Brief an Antonio Somma [16] – den Librettisten des „Maskenball - urteilte Verdi im Jahre 1878 hinsichtlich seines eigenen frühen Werkes kritisch: Was die Bühnenwirkung anbelange, sei „… das beste Buch, das ich bis jetzt in Musik gesetzt habe … Rigoletto … Es bietet gewaltige Situationen, Mannigfaltigkeiten, Feuer, Humor: alle Verwicklungen entspringen dem leichtfertigen, zügellosen Charakter des Herzogs; so die Befürchtungen Rigolettos, die Leidenschaft Gildas etc. etc., die zahlreiche, höchst dramatische Momente ergeben, darunter das Quartett, das was Wirkung betrifft, stets zu dem besten gehören wird, worauf unser Theater stolz sein kann“ (Verdi, in Seeger, S. 122, a.a.O.). Ebenfalls 1878 meinte Verdi, dass er nun ein Opernsujet „… wie etwa … Nabucco … ablehnen würde“ (Verdi, in Seeger, S. 121, a.a.O.).
Zum Tode seines Freundes, des von ihm hochverehrten Begründers des modernen italienischen Romans Alessandro Manzoni (1873) schrieb Verdi das monumentale, z.T. opernhafte „Requiem“, das auch zwei Fugensätze enthielt. Uraufgeführt wurde das Requiem zum ersten Todestag Manzonis am 22. Mai 1874 in der Kirche San Marco in Mailand. Dabei war Verdi sehr kirchenkritisch [17]. Das Requiem wird bis heute immer wieder aufgeführt.
Das Requiem würde – glaubte Verdi damals - sein letztes Werk sein. Nach Guido Adler ging das „Requiem“ „… über den Rahmen liturgischer Gebrauchsmusik hinaus“, - ein „Meisterwerk“ (Adler, S. 856, a.a.O.).
Nach dem „Requiem“ komponierte Verdi zehn Jahre lang quasi nichts. Nach der „Aida“ (1871) folgte erst 1881 die (zweite Fassung) der Oper „Simon Boccanegra“.
Der Musikverleger Giulio Ricordi klagte in einem Brief um 1880, dass Verdi sich „… widerspenstig … (weigere) …, auch nur eine Note mehr zu schreiben“ (zit. n. Werfel, 1979, S. 75, a.a.O.).
Verdi scheint zudem immer wieder Phasen von grüblerischen Selbstzweifeln erlebt zu haben. In einem Brief schrieb er: „Alles, was jetzt produziert wird, ist Angstprodukt“ (Verdi, zit. n. Werfel, S. 312, a.a.O.). Denkbar wäre es, dass die kompositorische Pause auch mit der Unzufriedenheit mit der Machart seiner früheren Opern zusammenhing, vielleicht auch mit dem Erkennen der komplexeren, anspruchsvolleren Kompositionsart u.a. Richard Wagners.
Der Musikhistoriker Guido Adler betonte jedenfalls, dass sich in Verdis Kompositionen eine „… sich steigernde Verfeinerung der Arbeit“ feststellen ließe (Adler, S. 910, a.a.O.), hin zu einer …
· „schönsten Altersreife“, bei der „… die absolute Musik, das Orchester unter dem Einflusse Wagners in höherer Art beteiligt“ wurde (Adler, S. 911, a.a.O.).
· Anwendung von Erinnerungsmotiven, in Verwandtschaft zur Leitmotivik (so im „Don Carlos“ oder in „Aida“; Adler, S. 911, a.a.O.).
· Aufgabe der (bloßen) Unterstützung der Gesangslinie durch Instrumente in „Falstaff“ (Verdis letztem Bühnenwerk, uraufgeführt 1893 in der Scala) und die dortige Schlussfuge „Tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone“ (Alles ist Spaß auf Erden, der Mensch als Narr geboren, Adler, S. 912, a.a.O.).
Verdi soll täglich in einem Notenheftchen eine Fuge geschrieben haben. Nach Werfel betrachtete Verdi „… das Fugenschreiben nur als Therapie, als Ölung seines inneren Musikmechanismus, vielleicht als selbst-ironische Buße für frühere Opernsünden“ (Werfel, 1979, S. 211, a.a.O.). Leider sind alle diese Fugenhefte Verdis verlorengegangen.
Die Musikhistoriker Bernard Kothe und Rudolph Freiherr Procházka bescheinigten Verdi schon gegen Ende des 19. Jhdts. eine „Gloriole der Klassizität“, er sei „… der bedeutendste italienische Opernkomponist nach Rossini, und nach Wagners Tode im Ausklange des 19. Jahrhunderts der größte lebende Tondichter überhaupt“ (Kothe / Procházka, S. 320, a.a.O.). Seine Opern seien gekennzeichnet durch eine „… vornehme…, eminent dramatische Musik, … stets mit geheimnisvoller Kraft, die … den Hörer unwiderstehlich zu packen weiß“ (Kothe/Procházka, S. 320, a.a.O.).
Simon Rattle meinte, man könne beim frühen Verdi immer schon ein wenig von dem hören, was später kommen würde (Rattle, in „Tagesspiegel“, 25. Januar 2014, S. 25).
Verdi und Wagner
Schon zu Verdis Lebzeiten gab es unter Musilliebhabern, -kritikern und -wissenschaftlern vielfach eine Konkurrenz, eine diametral entgegengesetzte Parteinahme für Verdi oder für Wagner, die zeitweise an einen Glaubenskrieg erinnerte. Beide wurden als Antipoden betrachtet. Die "Konservativen" unterstützten eher Verdi, mit seinem (angeblich) humanistischen Realismus und "apollonischen Maß". Die "Fortschrittlichen" unterstützten eher Wagners mythische Romantik, seinen "dionysischen Rausch". Mehrfach wurde Verdi - zu seinem Unwillen - vorgeworfen, er sei ein Wagnerianer geworden.
„Verdi ist kein Italiener mehr, er fängt an in Richard Wagner zu machen“ äußerte Georges Bizet (1838 – 1875) in einem Brief an einen Freund nach der Uraufführung der französischen vierstündigen Erstfassung des „Don Carlos“ [18] am 11. März 1867 in Paris (vgl. „Die Zeit“, Nr. 38/1955).
Der russische Komponist und Musikkritiker Alexander Nikolajewitsch Serow (1820 – 1871) verglich die Musik Verdis mit der Richard Wagners: „Wagners Musik kann wegen der Tiefe der Ideen und der Kompliziertheit ihrer Formen niemals auf eine Popularität rechnen, wie sie die Opern Verdis … genießen“ (Serow, in Seeger, S. 181, a.a.O.).
Noch im Frühjahr 1870 lehnte Giuseppe Verdi das Projekt einer altägyptischen Oper ab. Erst als ihm in einem Postskriptum eines Briefes suggeriert wurde, bei einer Ablehnung würde der Auftrag u.U. an Wagner vergeben, akzeptierte Verdi: „Ein solch teuflisch-verschlagenes Postskriptum musste den Komponisten im Innersten treffen“ (Dutronc, S. 4, a.a.O.). Nach der Premiere der Aida in Italien wurde Verdi „Wagnerismus“ vorgeworfen. Spätere Musikhistoriker meinten hingegen, Verdi habe sich „… mit seiner Aida … vor Wagner“ verneigt, „ohne jedoch seine individuelle Haltung preiszugeben … (Er) schuf mit ‚Othello‘ und ‚Falstaff‘ die bedeutendsten Opernwerke nach dem Bayreuther“ (Kothe/Procházka, S. 320/312, a.a.O.).
Für den Musikwissenschaftler Holger Noltze (*1960) waren beide, Verdi und Wagner „Ikonen des 19. Jahrhunderts“. Auch verbinde – trotz aller Unterschiede - das Motiv des „Liebestodes“ beide Komponisten (Noltze, a.a.O.). Allerdings hatte schon Franz Werfel in seinem Verdi-Roman darauf hingewiesen, dass in Verdis Opern „fast durchweg“ ein Frauentyp dargestellt wurde, der sich für seine Liebe aufopfert oder aufgeopfert wird (Werfel, 1979, S. 172, a.a.O.), so Gilda im „Rigoletto“, Violetta in „La Traviata“, Leonore in „Il Trovatore“, Aida und Luisa Miller in den gleichnamigen Opern.
Es lassen sich eine Reihe von markanten Unterschieden und auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Komponisten bemerken: So ist beiden gemeinsam, dass sie vor allem Opernkomponisten waren.
Ein grundsätzlicher Unterschied war, dass Wagner – im Sinne seines „Gesamtkunstwerkes“ - mit dem Zusammenwirken von Musik, Text, Bild, Politik und Kultur - die Operntexte selbst verfasste und darauf auch stolz war; heute wirken sie allerdings vielfach irritierend und veraltet. Es ist jedoch auffällig, wie intensiv sich auch Verdi kritisch, ergänzend, modifizierend mit seinen Libretti auseinandersetzte.
Verdi wie auch Richard Wagner wurden Ehrenbürger von Bologna.
Verdi gab sich heimatverbunden, liebte es, sich als ein Bauer aus dem Volk darzustellen. Wagner hingegen war ein ständig umherziehender, von fortwährenden Schulden, Geldsorgen und Projekten getriebener Heimatloser. Das internationale Operngeschäftes machte Wagner wie Verdi zwangsläufig zu vielreisenden, polyglotten Künstlern, die sich in ihrem Schaffen auf Europa, den europäischen Opernmarkt bezogen. Beide verdienten mit ihrer Musik sehr viel Geld, gingen aber mit ihm sehr unterschiedlich um. Verdis Philanthropie war Wagner nicht zu eigen.
Ein wichtiger Unterschied zwischen beiden ist in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung zu sehen. Tatsächlich beschäftigte sich Verdi mehrfach und zunehmend mit der Musik Wagners. Nachdem er 1865 in Paris die „Tannhäuser“- Ouvertüre („diesen komponierten Beischlaf mit immer heftigeren Steigerungen“, Noltze) gehört hatte, soll er – wie Noltze weiter ausführte – den Komponisten für verrückt („è matto“) erklärt haben. Später ließ er sich Schriften und Partituren von Helfern – anonym – zuleiten. Er wollte wohl verhindern, dass in der Öffentlichkeit bekannt würde, Verdi beschäftige sich mit der Musik Wagners.
Zur italienischen Wagner-Erstaufführung in Italien überhaupt, es ist „Lohengrin“ im „Teatro Comunale“ in Bologna am 1. November 1871, reiste Verdi nach Bologna. Einen Klavierauszug des „Lohengrin“ nahm er mit sich, verfolgte die Aufführung und machte sich Kommentare und Notizen am Rand. Verdi fand das Vorspiel schön, allerdings seien die häufigen hohen Violinpartien „ermüdend“ und der 2. Akt „langweilig“. Großen Eindruck jedoch machte ihm im 3. Akt die „Gralserzählung“. Fast alles an der Oper fand er zu lang. Verdi hingegen brauchte auch für „ das ganz große Gefühl … nur einen kurzen Anlauf. Überhaupt braucht er, anders als Wagner, nur wenig Zeit … 'La Traviata' ist ein Meisterstück an Verdichtung."(Noltze, a.a.O.).
Den zeitgenössischen „Lohengrin-Rummel“ in Bologna empfand Verdi als degoutant.
Anders als Wagner bemühte sich Verdi sehr professionell um eine differenzierte Wahrnehmung von Wagners Musik; er kannte dessen Partituren und war auch für die musiktheoretischen Publikationen zugänglich.
Richard Wagner seinerseits erwähnte weder in seinen tausenden von Briefen noch in seiner Autobiographie „Mein Leben“ (a.a.O.) aus dem Jahre 1868 [19] auch nur ein einziges Mal den Namen Verdi. Auch soll er keine Partitur von Verdi haben lesen wollen, hörte auch keine seiner Opern. War das eine Auswirkung von Wagners Egomanie? Oder ein Indiz für die Abneigung, die Angst vor dem erfolgreichen Konkurrenten im europäischen Operngeschäft?
Nach Werfel soll Wagner im Zusammenhang mit Verdis Musik von „dünnflüssigen Cantilenen“ gesprochen haben (Werfel, 1979, S. 110, a.a.O.). Wie Noltze ausführte, nahm Wagner Verdi einfach nicht ernst, er subsummierte ihn wohl unter die italienische „Leierkasten-Musik“. Dabei hatte Wagner sich z. B. für Bellini interessiert und auch bei Kantilenen anregen lassen. Wagner sprach oft abwertend von „Donizetti & Co“ – und Donizetti, dem er in seiner Pariser Zeit zu folgen versuchte, das war für ihn wohl das Schlimmste (vgl. Ujma, a.a.O.).
Das alles entspricht nicht einer differenzierten, vorurteilsarmen Auseinandersetzung, allerdings hatte Wagner aufgrund seines frühen Todes 1883 prinzipiell keine Chance, die komplexeren Spätwerke Verdis, wie Othello oder Falstaff kennenzulernen.
Als Verdi 1883 die Nachricht von Wagners Tod erhielt, äußerte er in einem in Sant’Agata ausgestellten Brief an Giulio Ricordi „Triste, triste, triste“: „Traurig, traurig, traurig! Wagner ist tot! ... Als ich gestern die Depesche las, war ich, das kann ich sagen, entsetzt. Diskutieren wir nicht – es ist eine große Persönlichkeit, die vergeht! Ein Name, der in der Geschichte der Kunst einen sehr mächtigen Eindruck hinterlässt!“.
Ein mehr als tendenzieller Unterschied zwischen beiden Komponisten ist in der Bedeutung des Leitmotivs bei Wagner zu sehen, das für ihn zu einem zentralen Mittel der Komposition wurde. Leitmotive – meist kürzere Tongebilde - treten im Kontext und zur Charakterisierung bestimmter Personen, Objekte, Gefühle, Hoffnungen, Ideen etc. auf, werden wiederholt, variiert, mit anderen kombiniert und „leiten“ die Aufmerksamkeit des Zuhörers – subtextartig - in bestimmte erwünschte Richtungen. Leitmotive sind assoziativ an einen bestimmten, außermusikalischen Sinngehalt gebunden. Sie werden von dem Zuhörer innerhalb des Werkes wiedererkannt und haben deshalb in der Regel eine prägnante, deutliche Gestalt. Als Leitmotive eignen sich charakteristische Melodien oder Teile von ihnen, aber auch ungewöhnliche Akkorde (wie der verminderte Septakkord des Samiel-Motivs in Webers „ Freischütz“, 1821).
Carl Maria von Weber war jedoch keineswegs der erste, der Leitmotivartiges benutzte. Weber selbst kannte (und schätzte) diese musikalische Technik schon z.B. an der Oper „Faust“ (1816 in Prag uraufgeführt) von Louis Spohr.
Leitmotivik spielt aber nicht nur in Opern eine bedeutsame Rolle, sondern auch in Symphonischen Dichtungen, z.B. ist die „idée fixe“ in Berlioz „Symphonie phantastique“ von 1830 ein Leitmotiv, ähnliches findet sich in Werken Franz Liszts oder Pjotr Iljitsch Tschaikowskis. Leitmotive sind bis heute zentrale Elemente der Filmmusik, von Walt Disney bis zu den Star Wars.
In Textbüchern des „Rings des Nibelungen“ sind oft neben dem Text die (wichtigsten) der über hundert Leitmotive angeführt, so das Entsagens-, das Erlösungs-, das Hagen-, das Ring-, das Treue-, das Unheil- oder das Verlockungsmotiv [20] (vgl. Burghold, z. B. S. 89, a.a.O.). Der gesamte Opernzyklus ist von einem wahren Geflecht von Leitmotiven durchzogen, Motive die sowohl rhythmisch und tonal als auch instrumentell variiert werden. Das Ring-Motiv z. B. taucht in verschiedenen Varianten vom Rheingold bis zur Götterdämmerung auf.
Verdi Opern kennen allerlei Erinnerungsmotive, bleiben aber in dieser Hinsicht mit Wagners ausgefeilter Leitmotivik unvergleichbar.
Die Singstimme und die Leitmotivik im Orchester sind bei Wagner miteinander verschränkt und gleichwertig.
Oft führt in den Opern Wagners nicht der Sänger die Melodie, sondern das Orchester, in das sich die Singstimme – wie ein Instrument - einfügt. Bei Verdi hingegen war ursprünglich die Gesangsmelodie einziges oder vorrangiges Ausdrucksmittel für alle Probleme und alle Emotionen und das Orchester war eine Art „gigantische Guitarre“ zur homophonen Unterstützung der Gesangslinie. In seinem späteren Stil aber kam es auch zu einer symphonischen Nutzung des Orchesters, es diente nun auch als inhaltlicher Träger von Gedanken und Gefühlen.
In seinen späten Opern – wird heute vielfach geurteilt - habe Verdi „… Wagner überwunden und den Durchbruch zur Moderne geschafft. Mit „Othello“ (1884) gelinge ihm – nach dreijähriger Arbeit -ein stilistisch avanciertes Musikdrama, als 80jähriger mit „Falstaff“ (1893), seiner letzten Oper, eine leichtfüßige komische Oper, die junge Komponisten wie Richard Strauss oder Ferruccio Busoni stark beeinflusste“ (vgl. Ujma, a.a.O.).
Franz Werfel fasste in seinem Verdi-Roman damalige wagnerianische Kritik an Verdi zusammen und legte sie Verdi selbst in den Mund: „Ich bin ein mäßiger Wagner-Epigone. Ich nasche an seiner Harmonik. Ich versuche seine erhabene Polyphonie in mein tölpelhaftes Bussetorisch zu übersetzen“ (Werfel, 1979, S. 19, a.a.O.).
Von den um die Jahrhundertwende jüngeren italienischen Komponisten schätzt der alte Verdi wohl v.a. Giacomo Puccini (1858 – 1924), der bald in der Öffentlichkeit als sein Nachfolger galt.
Werfel hat in seinem Roman „Verdi – Roman der Oper“ (Werfel, S. 7-23, a.a.O.) zufällige Zusammentreffen der beiden Komponisten anlässlich eines Konzertes im Teatro La Fenice in Venedig im Jahre 1882 und während des darauffolgenden dortigen Karnevals (Werfel, 1979, S. 280 ff.) beschrieben, Treffen, die allerdings real nie stattgefunden haben. Im 10. Kapitel seines Romans schilderte er sogar, wie Verdi sich schließlich überwand und Wagner im Palazzo Vendramin besuchte – aber, zu spät, Wagner war vor einer Viertelstunde gestorben! Tatsächlich haben sich die beiden nie getroffen, obwohl das leicht möglich gewesen wäre, in Venedig, in Paris oder Wien. Es scheint so, als wären sich beide aus dem Wege gegangen.
Nach (fragwürdigen) Umfragen der Fernsehsender 3sat, ZDF u.a. ergab sich eine Rangplatzliste der beliebtesten Opern der Welt: 1. „La Traviata“, 2. „Carmen“, 3. Die Zauberflöte“ und auf dem 10. Platz „Lohengrin“. Andere Umfragen sahen hingegen „Carmen“ als die beliebteste Oper überhaupt (vgl. „Die Welt“, 1. Juli 2009).
(unveränderlich, nach dem Gregorianischen Kalender)
© Christian Meyer
[1] Später wurde der Dorfname „Roncole“ (it. „Haumesser“, „Weinmesser“) zur Unterscheidung von anderen Roncoles in „Roncole Verdi“ umbenannt. Heute ist der Ort in die nahegelegene Stadt Busseto eingemeindet worden und gehört zur Provinz Parma.
[2] Mary Jane Phillips-Matz (1926 – 2013) erforschte ca. 30 Jahre lang Verdis Leben und Wirken; sie war 1976 Mitbegründerin des Amerikanischen Instituts für Verdi-Forschungen an der Universität von New York.
[3] Allerdings blieb diese zweite Ehe kinderlos, zum Kummer Verdis: „Wie ein unablässiger Orgelpunkt stand das Leid der Kinderlosigkeit über diesem Leben“ (Werfel, 1979, S. 199, a.a.O.).
[4] Der Vorläufer dieses Bandes, Hans Kühners Verdi-Monographie bei Rowohlt von 1961 strotzte noch von Heldenverehrung gegenüber Verdi, die wohl als unzeitgemäß empfunden wurde.
[5] Franz Werfel merkte an, dass während Verdis „Galeerenjahre“ in „… Italien insgesamt 534 neue Opern aufgeführt wurden“. Von den ca. 20 „überlebenden“ Opern stammten die meisten von Verdi (Werfel, 1979, S. 309, a.a.O.). Um 1840 gab es Italien ca. 200 Opernhäuser.
[6] Ismail Pascha lud Verdi ein, zur Eröffnung des geplanten Opernhauses in Kairo 1869 eine Hymne zu schreiben. Verdi lehnte dies Angebot im August 1869 ab, „… weil es nicht zu meinen Gewohnheiten gehört, Gelegenheitsstücke zu komponieren“ (zit. n. Dutronc, S. 4, a.a.O.). Die Kairoer Oper wurde dennoch mit Verdi eröffnet, mit einer Aufführung des „Rigoletto“ am 1. November 1869. Am 17. November 1869 wurde der Suezkanal eröffnet. Die Uraufführung der Aida erfolgte – wegen des Krieges 1870/71 verspätet - am 24. Dezember 1871 und wurde ein Triumph.
[7] 1984 produzierte der Schweizer Regisseur Daniel Schmidt eine eindrucksvolle Dokumentation, „Il Bacio di Tosca“, über die damaligen Bewohner der Casa di Riposo.
[8] Neben zahlreichen Verfilmungen von Verdis Opern existieren zumindest zwei Filme über Verdis Leben: Der italienische Film „Giuseppe Verdi – Ein Leben in Melodien“ aus dem Jahre 1954; es sang u.a. Mario del Monaco. 1982 entstand als französisch/italienisch/britisch/schwedisch/deutsche Gemeinschaftsproduktion „Giuseppe Verdi – Eine italienische Legende“. 1984 sendete die ARD den Film als 8-teilige Fernsehserie.
[9] Faktisch aber war Arturo Toscanini in „Ungnade“ gefallen, da er sich weigerte vor dem Beginn von Opern die faschistische Hymne „Giovinezza“ (Jugend) zu spielen. Heute ist die „Giovinezza“ in Italien verboten.
[10] Benannt nach der gleichnamigen 1847 gegründeten, von Cavour mitgegründeten und mitherausgegebenen Zeitschrift. Sie setzte auf die Machtmittel Sardinien-Piemonts, das sich an die Spitze der Einigungsbewegung setzen sollte (vgl. Altgeld, S. 277, a.a.O.). Risorgimento-Museen mit verschiedensten Objekten und Dokumenten gibt es u.a. in Turin, Padua, Lucca, Genua, Trient und Bologna.
[11] Noch 1875 nahm Verdi von Kaiser Franz Joseph II. das „Komturskreuz mit Stern“ an, einen hohen österreichischen Orden.
[12] Garibaldis „Rothemden“ gelangten auf zwei gekaperten Dampfern nach Sizilien, wo er von großen Teilen der Bevölkerung mit offenen Armen empfangen wurde. Vermutlich sah Garibaldi – in seiner nationalen Betriebsblindheit – nicht die Notwendigkeit einer Agrarreform auf Sizilien (vgl. Altgeld, S. 308, a.a.O.). Umgekehrt verhinderte er einen italienischen Bürgerkrieg und opferte seinen „Republikanismus … dem Nationalismus“ (Altgeld, S. 288, a.a.O.), indem er den König Viktor Emanuel II. anerkannte.
[13] Die italienischstämmige Bremer Literaturwissenschaftlerin Immaculata Amodeo (* 1961) hielt diese Sicht für eine aus der Literatur abgeleitete „Idealisierung“ (Amodeo, S. 26, a.a.O.).
[14] Gaëtano Donizetti (1797 – 1848) schrieb in seiner kompositorisch produktiven Zeit zwischen 1817 und 1843 insgesamt nachweisbar 71 Opern, von denen allerdings heute die meisten vergessen sind.
[15] Das Mailänder „Archivio Ricordi“ – es gehört heute zum Bertelsmann–Konzern - präsentierte zum Verdi-Jahr im Sommer 2013 in der Berliner „Konzernrepräsentanz“ (Unter den Linden 1) Originaldokumente von Giuseppe Verdi (u.a. Partituren, Libretti, ausgewählte Briefe, Bühnenbilder und Figurinen) zur Entstehungsgeschichte von „Othello" und „Falstaff".
[16] Somma war auch der Librettist der nicht vollendeten Oper „Il Re Lear“ – nach Shakespeare. Das Libretto wurde mehrfach umgearbeitet, auch Verdi selbst hatte Textpartien umgearbeitet, ergänzt, verdichtet.
[17] Verdi war antiklerikal, aber nicht antireligiös. Sowohl in Sant’Agata als auch in seinem Mailänder Altersheim ließ er Kapellen errichten.
[19] Wagners Autobiographie „Mein Leben“ wurde 1865 begonnen und umfasst den Zeitraum bis 1868. Zu seinen Lebzeiten kursierten nur einige Privatdrucke für enge Freunde. Die erste öffentliche Ausgabe des Werks erfolgte erst 1911.
[20] Der Schriftsteller und Wagner- (sowie Hitler-) -verehrer Hans von Wolzogen (1848 – 1938) untersuchte den gesamten „Ring des Nibelungen“ und entwickelte ein eigenes Lexikon der verwendeten Motive und soll den Begriff „Leitmotiv“ dabei geprägt haben. Wagner selbst allerdings soll die Bezeichnung Leitmotiv nur einmal (1879) benutzt haben. Wagner sprach sonst von Erinnerungsmotiven, einem Grundthema oder Grundmotiv, mit denen außermusikalische Gedanken ausgedrückt werden könnten. Nach einer anderen Quelle wurde der Begriff „Leitmotiv“ erstmals 1871 von dem Musikschriftsteller und Komponisten Friedrich Wilhelm Jähns (1809 – 1888) in seinem Verzeichnis der Werke Carl Maria von Webers benutzt.
„Leitmotiv“ wurde in einige andere Sprachen als Lehnwort aus dem Deutschen übernommen, u.a. in das Albanische, Bulgarische, Englische, Französische, Koreanische, Russische, Spanische und Türkische. Heute wird der Begriff Leitmotiv allerdings meist außermusikalisch verwendet, im übertragenen Sinne benutzt für den wichtigsten Inhalt, die zentrale Idee u. ä.
Die vatikanische Post gab im Jahre 2013 zum 200. Jubiläum sowohl eine Verdi-, als auch eine Wagner – Gedenksondermarke heraus.
Im österreichisch dominierten Teil Italiens wurde Verdis Name gegen Ende der 1850er Jahre zum politischen Code. Die Graffiti „Viva Verdi“ standen für die verbotene Losung „Viva Vittorio Emanuele Re d'Italia“ (Abb. aus Ujma, a.a.O.)
Gartenzaun der Villa Verdi, mit Verdi-Monogramm (Photo: Christian Meyer, Oktober 2013)
Giuseppe Verdi (Abb aus Kothe/Procháska, S. 312, a.a.O.). Der Schlapphut war ein Wahrzeichen vieler Anhänger des Risorgimento (vgl. Werfel, 1979, S. 131, a.a.O.).