Abb.: Das Sistrum (auch Gleit- oder Rahmenrassel) ist eines der ältesten Musikinstrumente überhaupt; Darstellungen finden sich schon auf ca. 4000 Jahre alten sumerischen Rollsiegeln;  die Abb. zeigt ein alt-ägyptisches Sistrum, um 350 v. Chr. (heute im Ägyptisches Museum Berlin).

 

 

Abb.:  Zeitgenössische Darstellung des singenden Hl. Yared, mit Sistrum, Gebetsstab (me- quamia); auf dem Buchständer (atronse) liegt eine Ausgabe der Digua, abgebildet sind außer- dem eine Trommel und ein Prozessionskreuz. Neben den drei Vögeln stehen in äthiopischer Schrift die Bezeichnungen der drei liturgischen Modi, Geez, Izil und Araray (die Abb. stammt aus:  Methafe Diggua Zeqidus Yared. Addis Ababa: Tensae Printing Press, 1996)

Abb.: „Der Heilige Yared mit Sistrum und Trommel“, zeitgenössische äthiopische Malerei auf Leder (Photo, Christian Meyer, Juni 2019)

 

 

19. Mai: Hl. Yared (Geez: ቅዱስ ያሬድ), der äthiopische Musik-Heilige

 

 

Im biblischen Geschlechtsregister der Patriarchen von Adam bis Noah wird „Jared” (hebr. „der Abkömmling“) angeführt, der 862 Jahre alt geworden sein soll und der Vater von Henoch sei (Gen. 5, 15). In Nordamerika ist Jared ein verbreiteter männlicher Vorname. 

aksumitischer Musiker, Komponist, Dichter und Choreograph aus der nordäthiopischen Region Tigray. Ihm wird die Begründung der äthiopischen Sakralmusik wie auch des traditionellen dortigen System der Notation zugeschrieben.  Zudem gilt er auch als Erfinder der wichtigsten liturgischen Instrumente, die bis heute in jeder äthiopischen Kirche zu finden sind, so das „sanasel“, ein Sistrum  und die beidseitig bespielbare Trommel (Kebero).

 

Geboren wurde Yared in der Stadt Aksum, nach dem frühen Tod seines Vaters wurde er von seinem Onkel Gidewon, einem christlichen Priester, erzogen und theologisch unterwiesen. Abba Gidewon war Lehrer des Alten und Neuen Testaments an der Kirche St. Maria von Sion in Aksum und gilt als Übersetzer der Bibel aus dem Hebräischen und Griechischen ins Geez (Altäthiopisch). Das Geez blieb in Äthiopien „… über Jahrhunderte eine verbindende Kultursprache“ (vgl. Kollmer, S. 213, a.a.O.). Die älteste bekannte äthiopische Handschrift ist das Evangelienbuch von Kaiser Amde Tsiyon (reg. 1314 – 1344). Geez ist bis heute die liturgische Sprache der orthodoxen Kirche Äthiopiens.

 

Allerdings war Yared kein guter Schüler und wurde deshalb oft von seinen Mitschülern gehänselt. Auch sein Onkel bestrafte ihn wegen seiner mangelnden Lernerfolge so scharf, dass der junge Yared aus der Schule flüchtete. Unterwegs, aber nur wenige Kilometer nördlich von Aksum, überraschte ihn ein starker Regen und er suchte nahe der Quelle Maikerah [1] Schutz unter dem Dach eines großen Baumes. Dort betete Vared und bat Gott um Weisheit. Gott erbarmte sich des Gebets des Kindes und schenkte ihm Intelligenz und Einsicht.

Nach einer anderen Überlieferung wurde Yared unter dem Baum Zeuge davon, wie eine Raupe (nach einem anderen Bericht eine Ameise) versuchte, den Baum zu erklimmen, um in der Krone die frischen Blätter zu erreichen. Sechsmal scheiterte die Raupe, erst beim siebenten Mal erreichte sie ihr Ziel. Yared kamen die Tränen, als er sein Verhalten mit der Ausdauer der kleinen Raupe verglich. Reumütig kehrte Yared zurück, bat seinen Onkel um Vergebung, durfte seine Studien fortsetzen und wurde bald der beste Schüler. Er lernte Hebräisch und Griechisch, beherrschte beide Sprachen fließend und wurde Diakon. Nach dem Tode seines Onkels übernahm er – der Überlieferung nach im zarten Alter von 14 Jahren – dessen Position als Lehrer (vgl. https://genygeny.wordpress.com/). 

 

Der Legende nach sandte Gott dem jugendlichen Yared aus dem Paradies drei Engel, die die Gestalt von  drei Vögeln annahmen. Sie umschwirrten Yared und lehrten ihn himmlische Musik und heilige Gesänge in seiner eigenen Sprache (Geez). Denn sie trugen ihn ins himmlische Jerusalem, wo 24 himmlische Engel vor dem Sitz der Dreieinigkeit den Herrn lobten und Yared mit Hilfe des Heiligen Geistes die geheiligten Hymnen in seinem Herzen empfing.

 

Nach einer mündlichen Überlieferung, hielten die Vögel zudem Yared von einem sündigen Weg fern. Denn er hatte sich vorgenommen, eine Person zu überfallen, die wiederholt versuchte, seine Frau zu betrügen. Um diese ihn irritierende Angelegenheit zu lösen, hatte er sich vorgenommen, den Eindringling umzubringen. Genau an dem Platz, wo er sich für den Überfall versteckt hatte, erschienen dann die drei himmlischen Vögel. 

 So wurde Yared statt zum Mörder zu werden, der Legende nach  zur Komposition inspiriert. In der Gebirgseinsamkeit komponierte er dann liturgische Musik und Lieder, die noch heute in äthiopischen Gottesdiensten gesungen werden.

Nach der äthiopischen Tradition war Yared auch der Schöpfer der herkömmlichen Notierung, tatsächlich aber entstammt das Notierungssystem einer deutlich späteren Epoche, wahrscheinlich dem 16. Jhdt. Zudem vermittelt es nur ungenaue Angaben, wie die Musik gespielt werden soll.

Die heutige Aufführungspraxis äthiopischer liturgischer Musik wurde in verschiedenen „Schulen“ entwickelt und v.a. oral weiter vermittelt.

Traditionelle – angeblich auf den Hl. Yared zurückgehende - Notierungszeichen: 1. Spalte Name (Lateinisch/Geez), 2. Spalte: Zeichen; 3. Spalte: Musikalische Bedeutung

1. Yizet (ይዘት)

Vergleichbar mit staccato.

2. Deret (ደረት)

Mit tiefer Stimme; Brummend in der tiefsten männlicher Stimmlage.

3. Kinat/Qenat (ቅናት)

Vergleichbar mit aufwärts glissando.

4. Chiret/Chiret (ጭረት)

Vergleichbar mit abwärts glissando.

5. Difat (ድፋት)

Wechsel zu einer „Oktave“ tiefer

6. Kurt/Qurt (ቁርጥ)

Vergleichbar mit coda.

7. Rikrik (ርክርክ)

Vergleichbar mit tremolo.

8. Hidet (ሂደት)

Vergleichbar mit  zugleich accelerando, crescendo und portamento.

 

Zu dem traditionellen Notierungssystem gehören auch fünf Tempoangaben:

1. Mereged

Vergleichbar mit largo und grave, sehr langsam.

2. Nuis-mereged

Vergleichbar mit adagio, langsam.

3. Abiy-tsefat

Vergleichbar mit  allegretto, gemäßigt schnell.

4. Tsefat

Vergleichbar mit allegro, schnell.

5. Arwasti

Vergleichbar mit prestissimo, sehr schnell.

 

 

Die äthiopischen liturgischen Gesänge („Zema“ „Gesang, Melodie“) benutzen bis heute drei pentatonische Modi (amhar. „kignit“), die der Legende nach dem Hl. Yared in einer Vision enthüllt und von ihm Geez, Izil (auch: Ezel), und Araray benannt wurden (vgl. Laakkonen, a.a.O.).

Geez ist der häufigste sakrale Modus für den kirchlichen Alltag, er wird mit Gott Vater assoziiert. Araray gilt als ein lieblicher, warmherziger Modus für die hohen Festtage, er wird seltener, in höheren Lagen gesungen und gilt als mit dem Heiligen Geist assoziiert.

Izil ist ein der Passionszeit vorbehaltener Modus der Trauer und Sorge, assoziiert mit dem Sohn (der Trinität). 

 

In der gesamten traditionellen – auch säkularen - Musik Äthiopiens unterscheiden sich die Modi nicht nur hinsichtlich ihrer Tonhöhen und Intervalle, sie bilden auch ein Grundgerüst von Melodien, sind verbunden mit verschiedenen Gesangssystemen, Jahreszeiten und Festen.

Ein weit verbreiteter Modus ist „Bati“, benannt nach einem Ort in dem Wollo-Gebiet:

                Die Tonfolgen entsprechen etwa: C, Es, F, G und B.

Ein anderer heißt “Ambassel” benannt ebenfalls nach einer Wollo-Ortschaft: 

Die Tonfolgen entsprechen etwa: C, Des, F, G und As [2] (vgl. Laakkonen, a.a.O.).

 

Der Überlieferung nach fasste Yared seine Kompositionen in fünf Bänden mit Gesängen zu bestimmten Ritualen, Festen, Fastenzeiten etc. zusammen, die in der Regel in dem äußeren Bereich der Kirchen zum Teil zusammen mit rituellen Tänzen aufgeführt werden: 

 

  • Das Buch der Digua  [3] (Gesänge für die großen Kirchenfeste und Sonntage) und Tsome Digua, das Lieder für die 55tägige Große Fastenzeit der orthodoxen äthopischen Kirche vor Ostern (Abiy Tsom), aber auch Tagesgebete, Lobpreisungen etc. enthält. Das Wort „Digua” (auch: Deggua) bedeutet auf Tigrigna (der Sprache im nordäthiopischen Tigray)  „Trauergesänge, tränenreiche Lieder“. Zuweilen wird Digua auch „Mahelete Yared” genannt, „die Gesänge von Yared” – womit die Autorschaft Yareds betont wurde.

·         das Buch Meraf, Gesänge zum Sabbat, für wichtige Feste, tägliche Gebete und Gesänge zum Fastenmonat

·         das Buch Zimare (Gesänge, die nach der Messe, zu Ehren der Kommunion aufgeführt werden)  

  • das Buch Mewasit (requiemähnliche Gesänge für die Beerdigungen, für die Toten). .
  • das Buch Quidase, das während der Kommunion aufgeführt wird.

 

Yared soll neun Jahre an den Kompositionen gearbeitet haben.

Der Legende nach war der Kaiser Gabra Masqal (auch: Gebre Meskel; nach einer anderen Überlieferung war es sein Vorgänger Kaiser Kaleb) ein begeisterter Anhänger der Musik von Yared. Bei einer der Musikdarbietungen Yareds war der Kaiser so von der Musik verzaubert, dass er nicht bemerkte, wie er den Heiligen versehentlich mit der Lanze in den Fuß stach.

Um seine Schuld zu tilgen, gab der Kaiser dem Heiligen einen Wunsch frei: Er wünschte sich, den Rest seines Lebens in der Einsamkeit zubringen zu dürfen, um sich ganz dem Gebet, der Meditation und der Komposition widmen zu können. Tatsächlich soll Yared seine letzten Lebensjahre in der Einsamkeit der Semien-Berge verbracht haben, wo er auch starb.

Die bis zu 4500 m hohen Semien-Berge nördlich von Gondar sind seit 1969 ein Nationalpark. 

Der Hl. Yared starb im Alter von 66 Jahren am 20. Mai, 571 n. Chr. in einer Höhle in den Semien-Bergen, wo er bis zu seinem Tode unterrichtet haben soll.

 

Das Leben des Hl. Yared ist in mehreren äthiopischen Heiligenbiographien und  in der Kibre Negest ( „Ruhm der Könige“, verfasst gegen Ende des 13. Jhdts.) beschrieben worden. 

Die äthiopische Kirchenmusik gehört ohne Zweifel mit zu den ältesten lebendigen liturgischen Musiktraditionen weltweit.

Das Yared-Orchester ist eine der bekanntesten Musik-Gruppen im heutigen Äthiopien, die Musikschule Addis Abeba trägt den Namen „Yared Musikschule“.  

(die Äthiopische OrthodoxeTewahedo [4] -Kirche, die Eriträische Orthodoxe Kirche und die Äthiopische Katholische Kirche gedenken des Heiligen alljährlich am 11. Tag des Monats Genbot nach dem Äthiopischen Kalender; das entspricht nach dem Gregorianischen Kalender dem 19. Mai) 



[1]Maikerah“ ist ein „sprechender Name“: Auf Tigrigna – der Regionalsprache - bedeutet „mai“    „Wasser“ und „kerah“   „Baum“. Bis heute wird das Wasser der Quelle als geweihtes, geheiligtes Wasser angesehen. Viele Menschen besuchen extra die Quelle, um Wasser zu trinken oder abzufüllen, an dem Ort, an dem Yared von einer Raupe lernte.  

[2] Die Modi können mit den unterschiedlichsten Tönen beginnen und größere und kleinere Intervalle aufweisen. 

[3]  Um die Kenntnis der liturgischen Musik im Lande zu verbreiten, soll Yared lehrend und musizierend durch Äthiopien gezogen sein. Zwei Jahre soll er auf der Insel St. Qirqos (auch: Cherkos) im östlichen Tana-See zugebracht haben, einer Insel, die heute nur von Mönchen betreten werden darf. Der Überlieferung nach schrieb Yared dort eigenhändig seine „Digua“: Die Tinte zum Schreiben mischte Yared in einer steinernen Schale. Sie sei genauso wie sein Gebetsstab, sein Sistrum und das Digua-Original in der Klosterkirche auf der Insel erhalten geblieben.

[4] Tewahedo bedeutet auf Amharisch „Einheit“ (ähnlich dem etymologisch  verwandten arabischen Tauhīd)  und bezeichnet die Einheit der göttlichen und menschlichen  Natur Christi, einer der zentralen theologischen Streitfragen des frühen Christentums. Die Äthiopische Orthodoxe Kirche lehnt für sich jedoch die Bezeichnung „monophysitisch“ ab.  

Abb.: Der singende Hl. Yared mit Schülern vor dem Kaiser (moderne Wandmalerei im Remhal Hotel in Aksum)

 

Abb.: Yared singt vor dem Kaiser Kaleb [1] von Aksum. In seiner Verzückung spürt Yared nicht den versehentlichen Lanzenstich in seinen Fuß (Wandmalerei in der „Enda Maryam Tsion“- Kathedrale von Aksum, Anfang des 20. Jhdts.; die Abb. stammt von der Titelseite von Bartnicki, Bd. 1, a.a.O.).


[1] Unter Kaiser Kaleb (ca. 500 – 525) versuchte Aksum seine Herrschaft auf Südarabien auszudehnen – letztlich erfolglos.