Ukrainischer Gedenktag an die Opfer des „Holodomor“ / “Golodomor“ [1] in den Jahren 1932-33, in der Sicht vieler Ukrainer eine künstlich herbeigeführte Hungerkatastrophe, ein (angeblich) bewusst geplanter Genozid am ukrainischen Volk. 

 

Im Gefolge der erzwungenen Kollektivierung der Landwirtschaft in der damaligen Sowjetunion kam es zu großen Hungersnöten, bei denen 1932/33 mehrere Millionen Menschen vor allem in ländlichen Regionen verhungerten.

Schon zu Lenins politischem Programm gehörte die Kollektivierung der Landwirtschaft, aber sie wurde angesichts der ökonomischen Probleme vertagt. Unter Stalin aber wurde sie 1928/29 in der gesamten damaligen UdSSR überstürzt und brutal in die Wege geleitet. „Die unmittelbaren Folgen dieser Maßnahmen waren katastrophal. Der Viehbestand ging in den Übergangsjahren enorm zurück. 1932/1933 ging erneut eine Hungersnot durchs Land, die diesmal noch furchtbarere Formen bis zu Erscheinungen des Kannibalismus annahm und im Ausland größtenteils unbemerkt blieb. Die Opfer werden auf rund 10 Millionen Menschen angesetzt“, in der gesamten damaligen Sowjetunion (vgl. Georg von Rauch, in Kohn, 1962, S. 152, a.a.O.).

Allerdings traf die Kollektivierungsaktion „… die ukrainischen Bauern besonders hart – sie hatten sich in der Zwischenzeit so weit erholt, dass viele von ihnen sich gegen die Enteignung wehrten. Während etwa 2 Millionen im Jahr 1933/34 verhungerten, wurden Hunderttausende in die sibirischen Arbeitslager verschickt, von wo die meisten nie wiederkehrten“ (Peter Scheibert, in Kohn, 1962, S. 263, a.a.O.).

Während der Phase der Kollektivierung sah Karl Schlögel in seinem großartigen Werk „Terror und Traum – Moskau 1937“ die Herrschaft der Partei in manchen Landstrichen als „zusammengebrochen“ an und sie konnte nur „… wieder aufgerichtet werden in einer Art Reconquista von speziellen Einsatzgruppen, die aus den Städten heraus operierten. In Rebellionen und Aufständen hatten die Bauern anfangs gegen die gewaltsame Beschlagnahme des Getreides und dann gegen ihre gewaltsame Zusammenfassung in Kollektivwirtschaften aufbegehrt. ... Berichte … verzeichneten Tausende von Überfällen, Racheakten, kleinen und größeren Scharmützeln. Vielerorts waren Weiberaufstände an der Tagesordnung. … Lieber schlachteten die Bauern ihr Vieh, als dass sie es in die Kolchosen oder Sowchosen abgaben. Die registrierten Ursachen zeigten ein Land in Gärung, in Aufruhr, im bald versteckten, bald offenen Bauernkrieg“ [2] (Schlögel, S. 111, a.a.O.).

Karl Schlögel schätzt, dass zwischen 1926 und 1939 „... mindestens 23 Millionen sowjetische Bauern vom Land in die Stadt (wanderten, C.M.), eine Land–Stadt–Wanderung, wie es sie bisher in der Weltgeschichte nicht gegeben hatte“ (Schlögel, S. 81, a.a.O.). Allerdings betonte er auch, dass Hunderttausende in die Städte zogen, „… getrieben von den Schrecken der Zwangskollektivierung und der folgenden Hungersnot, der Millionen zum Opfer gefallen waren. Hunderttausende waren in die Stadt ausgewichen, weil sie nur so drohenden Verfolgungen und Deportationen entgehen konnten. Es ist schwer zu entscheiden, wo die Wanderungsbewegung aufhört und die Fluchtbewegung beginnt“ (Schlögel, S. 82, a.a.O.).

Gunnar Heinsohn führte aus, es habe v.a. in der Ukraine, in Kasachstan und im Kaukasus heftige Widerstände gegen die Enteignungen bei der Zwangskollektivierung gegeben.

Diese Widerstände sollten durch eine absichtlich herbeigeführte und durch Zwangsrequirierungen verschlimmerte Hungersnot gebrochen werden. Zudem sollten auch Unabhängigkeitstendenzen in diesen Regionen so geschwächt werden. Deshalb unterband die KPdSU auch die Versorgung der Hungernden und die Ausreise aus den Hungergebieten. Dieses Vorgehen der Stalinschen Regierung wird von Heinsohn als Mischung von „Politizid“ und Genozid angesehen. Eine realistische Darstellung der Hungerkatastrophe wurde oft aus politischen Gründen als „böswilliger Antikommunismus“ angeprangert (vgl. Heinsohn, 1998, a.a.O.).

 

Der sowjetische Schriftsteller Wassili Semionowisch Grossman (1905-1964) beschrieb in seinem epischen Roman „Leben und Schicksal“ - ohne den Begriff Holodomor zu verwenden – das elende Schicksal „… der ganzen Ukraine im Jahre 1930. Brennnesseln haben wir gefressen, bis es auch die nicht mehr gab, dann Erde … Das Getreide hat man uns bis zum letzten Körnchen abgenommen. Mein Mann ist gestorben, aber was hat er durchmachen müssen! Ich war damals ganz aufgeschwemmt, konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr laufen … Ein leises, langgezogenes Stöhnen lag damals über dem Dorf; lebende Skelette, Kinder, krochen über den Boden, leise winselnd. Männer mit aufgeschwemmten Beinen stolperten ziellos durch die Höfe, völlig entkräftet vom Hunger. Frauen suchten Essbares – alles war schon aufgegessen und gekocht – Nesseln, Eicheln, Lindenblätter, Hufe, die hinter den Hütten herumlagen, Knochen, Hörner, ungegerbte Schaffelle … Und die Kerle aus der Stadt gingen durch die Höfe, vorbei an Toten und Halbtoten, öffneten Vorratskammern und gruben Löcher in den Scheunen, stocherten mit Eisenstäben in der Erde herum und suchten noch immer nach dem Kulakenkorn“ (Grossman, S. 683/684, a.a.O.).

 

Einer der wenigen „westlichen“ Journalisten, die über die Hungerkatastrophe als Augenzeugen berichten konnten, war Gareth Jones (1905 - 1935). Der junge walisische, mehrsprachige Reporter und Sekretär Lloyd Georges war bekannt geworden, da er den gerade zur Macht gelangten Adolf Hitler im Februar 1933 mit einer ausgesprochen positiven Tendenz interviewen konnte. Nun plante er ein Interview mit Stalin, was ihm aber in Moskau nicht gelang. Ausgestattet mit einem Geschäftsvisum für Moskau fuhr er im März 1933 auf eigene Faust mit dem Zug in die Ukraine, wo er mitten in die später Holodomor genannte Hungerkatastrophe gelangte. Er wurde Zeuge von Prügeleien um einen Kanten Brot, Menschen aßen Baumrinde und in ihrer Not auch Menschenfleisch. Verhungernde starben auf der Straße, die Leichen wurden auf Karren abtransportiert. Für Gareth Jones war es angesichts des relativen Überflusses in Moskau offensichtlich, dass Stalin und die Regierung die Hungerkatastrophe – der in der Ukraine zwischen 2,6 und 5 Mio. Menschen zum Opfer fielen -, absichtlich herbeigeführt hatten, die Ursache aber in der brutalen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zu sehen sei.

Glücklich nach England zurückgekehrt berichtete Jones der internationalen Presse (z.B. im „Berliner Tageblatt“ am 1. April 1933) und auf Konferenzen über die Hungerkatastrophe. Vielfach wurde ihm antikommunistische Panikmache vorgeworfen, er fand aber auch große Unterstützung, z.B. in den Zeitungen von Randolph Hearst.

Vermutlich wurde George Orwell  zu seiner antistalinistisch-dystopische Satire „Die Farm der Tiere“ (1945) durch Gareth Jones Berichte inspiriert. Den ursprünglichen Farmbesitzer nannte Orwell Mr. Jones.   

 

Auf einer Reise nach Ostasien, in die Innere Mongolei und Mandschukuo wurde Gareth Jones 1935 von einer lokalen Bande entführt und ermordet. Vermutet wurde immer wieder, dass der sowjetische Geheimdienst daran mitgewirkt habe (vgl. „Le monde“, 23. Juni 2020, S. 30). 

 

Im Rahmen der angestrebten Rekonstruktion der Geschichte der Ukraine kam es in der nachsowjetischen Zeit, v.a. seit der Amtsübernahme von Präsident Juschtschenko zu einem regelrechten „Krieg der Erinnerungen“ um die Deutung der damaligen Hungerkatastrophe.

Für Juschtschenko und andere waren „… die Millionen Bauern, die damals verhungerten, Opfer eines von Stalin angeordneten Völkermords, der damit dem ukrainischen Nationalismus ein Ende machen wollte.

Für die Ukraine ist der Holodomor offiziell ein Genozid am ukrainischen Volk (vgl. Lang/Klymenko, S. 83, a.a.O.). Unumstritten ist die direkte Verantwortung der stalinistischen Regierung für das Ausmaß der Hungersnot (Kappeler, S. 50, a.a.O.). Viele Argumente sprechen dafür, dass Stalin ….

  • … die ukrainischen Bauern bestrafen und
  • … die als illoyal verdächtigten Ukrainer disziplinieren wollte (vgl. Kappeler, S. 50, a.a.O.).

 

Unter Präsident Wiktor Juschtschenko (Präsidentschaft 2005 - 2010) wurde erreicht, dass eine ganze Reihe von Staaten (neben der Ukraine u.a. Argentinien, Australien, Aserbeidschan, Belgien, Brasilien, Ecuador, Estland, Georgien, Italien, Kanada, Kolumbien, Lettland, Litauen, Moldawien, Paraguay, Peru, Polen, Spanien, Tschechien, Ungarn,die USA und der Vatikan) den Holodomor offiziell als Völkermord anerkannten.

Für die Russen verbirgt sich hinter Juschtschenkos Initiative hingegen der Versuch, die gemeinsame Geschichte umzuschreiben“ (vgl. Goanec, S.6, a. a. O.).

 

Russland hingegen lehnt den Begriff Völkermord für den Holodomor ab. Dem Hunger in der Sowjetunion 1932-1933 seien ja keineswegs nur Ukrainer zum Opfer gefallen. Der Holodomor würde – vermutet man - für politischen Ziele in der Ukraine missbraucht werden. Der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew lehnte im November 2008 eine Einladung zu einem Holodomor-Gedenken in Kiew ab, es könnte dazu dienen, das ukrainische dem russischen Volk zu entfremden.

Deshalb ließ der russische Präsident Medwedjew im Mai 2009 eine Kommission zur „Verhinderung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil Russlands“ einrichten, „…der neben dem Leiter der russischen Archivverwaltung und vier Historikern vor allem hohe Beamte des Justizministeriums, der Auslandsaufklärung, des Generalstabs, des Außenministeriums, des Sicherheitsrats, des Inlandsgeheimdienstes und der Präsidialverwaltung angehören“ (vgl. Goanec, S.6, a. a. O.).

 

Wegen seiner Berichterstattung über den Holodomor gilt Gareth Jones in der Ukraine heute als eine Art Nationalheld.  Wiktor Juschtschenko  verlieh Jones 2008 postum den Verdienstorden der Ukraine 3. Klasse.

 

 

Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland (* 1948), eine frühere Assistentin von Andrzej Wajda, drehte im Jahr 2019 den Film „L‘ombre de Staline“ (deutscher Titel: „Mr. Jones“) in dem Gareth Jones die zentrale Figur ist und der später so benannte Holodomor thematisiert wird. Auf der Berlinale 2019 hatte der Film seine Weltpremiere.  

 

(bis 2006 wurde der Holodomor-Gedenktag am 25. November, unveränderlich nach dem Gregorianischen Kalender begangen; seither gedenkt man in der Ukraine offiziell des Holodomor jeweils am 4. Samstag im November)

 
© Christian Meyer


[1] Der ukrainische Begriff „Holodomor“ besteht aus den Wörtern „Holod“ und „Mor“: „Holod“ („голод“, russ. Golod) heißt „Hunger“, „Mor“ ist ein altes ostslawisches Wort und bedeutet „Tod“, „Seuche“, „Massensterben“; Holodomor/Golodomor heißt wörtlich „Hungerstod“. In dem modernen Ukrainischen und Russischen bedeutet der Begriff somit „Vertilgung, Ausrottung, Ausmerzung“. Zu dem Begriff „Holocaust“ gibt es keine etymologische Verbindung.

[2] Rosa Luxemburg hatte schon 1918 in ihrer Schrift „Die Russische Revolution“ kritisiert, „… dass die unmittelbare Landergreifung durch die Bauern mit sozialistischer Wirtschaft gar nichts gemein hat“ (Luxemburg, 1970, S. 172, a.a.O.). Statt dessen sah sie die Möglichkeit einer Vergesellschaftung des Grund und Bodens, - fraglich bleibt allerdings, wie die Bauernschaft auf diese Vorstellung reagiert hätte.

 

Umgekehrt aber prophezeite Rosa Luxemburg, dass nun „… nach der ‚Besitzergreifung‘ … als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen(steht), das sein neuerworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und mit Nägeln verteidigen wird“ (Luxemburg, 1970, S. 170, a.a.O.). 

 

Abb: Bild aus dem Film „Mr. Jones“ (Abb. aus „Le monde“, 23. Juni 2020, S. 30)