Erew Jom Kippur , Vortag des Jom Kippur; Kol Nidre
Mittags wird in der Synagoge zum erstenmal das „Vidui“, das Sündenbekenntnis, gesprochen. Es ist am Jom Kippur unabdingbarer Teil jeder Andacht. Der Abend des 9. Tages des Tischri gehört bereits zu dem Feiertag selbst.
Sehr umstritten ist hier das Ritual des "Schlagens des Sündenbocks". Bei dem "Kapporeshendl" oder "Kapporetschlagen" wird z.B. ein Huhn über dem Kopf des Sünders herumgewirbelt. Dazu wird ein Gebet gesprochen: "Du gehst statt meiner in die Welt der Schatten ein ..." (vgl. Ludwig, S. 68, a.a.O.). Die Frau wirbelt ein Huhn, der Mann einen Hahn, die Kinder je nach Geschlecht junge Tiere. Wenn kein Geflügel vorhanden ist, darf auch Fisch benutzt werden. Die Tiere werden dann koscher geschlachtet und für das abendliche Mahl zubereitet.
Der ganze Ritus ist ein Andenken an die antik - biblische Austreibung der Sündenbocks in die Wüste.
Das Essen soll nicht zu schwer sein und salzarm, damit es am folgenden Fastentag Jom Kippur keinen zusätzlichen Durst verursacht.
Vor dem abendlichen Gang in die Synagoge erfolgt das Ritual des Lichtanzündens: Benötigt wird eine große Kerze, die bis zum nächsten Abend brennt und nicht ausgehen darf.
Am Abend, in der Synagoge, findet der längste und bedeutendste Gottesdienst des ganzen Jahres statt, die Nacht des "Kol Nidre". In der Synagoge sind die Schutzdecken auf Podium und Lesepult, der Vorhang vor dem Thoraschrank sowie die Hüllen der Gesetzesrollen weiß verkleidet. Auch Kantor und Rabbi tragen die weißen Kittel, die ihnen einstmals auch als Totenkleidung dienen werden (vgl. De Vries, S. 80, a.a.O.). Früher war diese Tradition, am Kol Nidre in der Totenkleidung die Synagoge zu besuchen, in manchen Regionen allgemein üblich.
Das große Gebet wird vom Kantor der Synagoge gesungen, Alter und Herkunft der Musik [1] sind unbekannt. In dem Kol Nidre [2] wird um Gnade gefleht, für alle Sünden, insbesondere alle falschen Gelübde und Versprechungen: „Alle Gelübde, Entsagungen, Bannungen, Entziehungen, Kasteiungen und Gelöbnisse unter jedem Namen, auch alle Schwüre, so wir gelobt, geschworen, gebannt und entsagt haben, haben werden - von diesem Versöhnungstage bis zum Versöhnungstage, der zu unserem Wohle herankommen möge - bereuen wir hiermit allesamt; sie alle seien aufgelöst, ungültig, unbündig, aufgehoben und vernichtet, ohne Verbindlichkeit und ohne Bestand. Unsere Gelübde seien keine Gelöbnisse....“ [3] (zit. n. De Vries, S. 87, a.a.O.).
In einigen Synagogen währt der Gebetsgesang die ganze Nacht und den nächsten Tag, den eigentlichen Jom -Kippur - Tag.
(variabel nach dem gebundenen jüdischen Mondkalender, am 9. Tag des 1. Mondmonats Tischri)
© Christian Meyer
[1] Der spätromantische deutsche, nicht-jüdische Komponist Max Bruch (* 1858 in Köln, + 1920 in Berlin) hat 1881 das Kol Nidre für Cello (oder Violine), Harfe und Orchester bearbeitet und so als Konzertstück bekannt gemacht.
[2] „Kol Nidre“ sind die aramäischen Anfangsworte (aram.: כל נדרי „alle Gelübde“) der großen Abendandacht, sie gaben dem ganzen Tag den Namen. Mit dem Gebet sollen alle Gelübde, alle Schuld und alle Missetaten vor Gott und den Menschen vor dem Versöhnungstag Verzeihung, Absolution finden.
[3] Dieser Text wurde oft Anlass zu Missverständnissen und antisemitischen Verleumdungen. Denn diese Worte bedeuten nicht etwa, dass Juden an keinerlei Versprechungen gebunden seien und nach Belieben lügen oder betrügen dürften. Vielmehr geht es hier um Gelübde, Versprechungen etc., die ein Mensch aus eigenem freien Willen sich selbst auferlegt hat, bei denen er nur seinem Gewissen oder Gott gegenüber verantwortlich ist.
Ansonsten gilt im Judentum die besondere Hochachtung gegenüber Versprechungen und Gelübden, wie sie schon in den zehn Geboten zum Ausdruck kommen.