Die „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche St Marien
"Judensau"-Flugblatt aus dem Jahre 1470
Christian Meyer Oktober 2000 – März 2018
Schmähdarstellungen des Typs “Judensau“
An der Wittenberger Stadtkirche St. Marien - Martin Luthers Predigtkirche - befindet sich an der Südostecke unterhalb des Dachfirstes ein behauener Stein, die sog. Wittenberger „Judensau“. Dargestellt sind eine Sau und verschiedene Menschen. Das Relief zeigt Juden in intimer Beziehung zu dem von ihnen als unrein gemiedenen Schwein. Einige der Menschen saugen - gemeinsam mit Ferkeln - an den Zitzen der Sau, ein anderer hebt den Schwanz der Sau und betrachtet ausgiebig deren Analregion.
Der verächtlichmachende Text über der obigen Darstellung heißt vollständig „Rabini schem ha - mphoras“ und bedeutet „der entfaltete, erklärte Gottesname des Rabbiners“. Der Text ist allerdings falsch vokalisiert, schon Johannes Reuchlin hatte irrig „hamaphoros“ geschrieben.
Korrekt auf Hebräisch heißt es „schem ham’forásch“: „schem“ = der Name“, „ha“ ist ein Genitivpartikel, „mefaresch“ = erklären, erläutern, explizieren. “Rabini“ hingegen heißt auf lateinisch „des Rabbiners, von dem Rabbiner“ (so wie „Christi“ = von Christus).
Die Sau also - so soll die Abbildung verstanden werden - sei der eigentliche jüdische Gottesname. Das Heiligste, der Name Gottes, wurde mit dem Unheiligsten, der Sau, in Verbindung gebracht. Schlimmer konnte man einen Juden nicht verletzen.
Die Abbildungen des Typus „Judensau“ dienten der Verächtlichmachung des Judentums und der Juden, da das Schwein gemäß 3. Buch Mose, 11,7 und 5. Buch Mose 14,8 als unreines (hebr. „tame“) Tier angesehen wird.
Der wichtigste jüdische Gottesname ist nur als „Tetragrammaton“ (Buchstabengeviert) JHWH überliefert. Denn man schrieb im damaligen Hebräisch nur die Konsonanten, die Vokale ergänzte man aus dem Zusammenhang des Textes. Nur der Hohepriester dürfte einmal im Jahr, zum Versöhnungstag (Jom Kippur) im Allerheiligsten des Tempels stehend den Gottesnamen aussprechen.
Die Kenntnis der fehlenden Vokale ist im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen. Alle Vokalisierungsversuche gelten als falsch (wie „Jehova“) oder fragwürdig (wie „Jahwe“). Der Name Gottes wird von frommen Juden (bis heute) so heilig angesehen, dass sie ihn gar nicht aussprechen. Sie benutzen Umschreibungen die „elohim“ (hebr. von „el“ = Gott, „Gottheit“) „adonai“ (ab ca. 200 v. Chr., abgeleitete Form von semit. „adon“ = Herr), „Zebaoth“ = hebr. Heere, Heerscharen oder eben „schem“ = Name.
Eine alte jüdische Legende besagt, dass Mose das Schilfmeer erst dann zu teilen vermochte, als er den Namen Gottes aussprach. Wer die entsprechenden Tora - Verse (2. Mose 14) und den Namen Gottes kenne, der könne mithilfe Gottes und der 72 Engel ebensolche Wunder tun.
Die Wittenberger Inschrift "Schem Ha Mphoras" verweist weiterhin auf die jüdische Mystik, die u.a. Aussagen über das Wesen Gottes aus geheimen Zahlen- und Wortkombinationen ableitet. Diese Buchstabenfolge „Schem Ha Mphoras“ besaß nach der Vorstellung jüdischer Kabbalisten universelle Kräfte. Sie wurde deshalb als besonders heilig angesehen und vor Unberufenen strikt geheim gehalten.
In der - schon im späten Mittelalter zerstörten - Regensburger Synagoge sollen zwei viereckige Marmorsteine eingebaut gewesen sein, die den Namenszug Gottes trugen.
Die Kabbalisten, jüdische Mystiker haben aus diesem Denken ein ganzes System entwickelt, das dazu diente sich Gott zu nähern, ihn mit umschreibenden Namen benennen und loben zu können, ohne seine Heiligkeit zu verletzen. Für Außenstehende trugen die geheimnisvollen und deshalb unverständliche Gedanken dazu bei, die Juden der Gotteslästerung und der Zauberei zu zeihen. Für die Juden war der „Schem Hamphoras“ der größte Namen Gottes.
In seiner Schrift „Schem Hamphoras“ (1543) bezieht sich Martin Luther sogar direkt auf die Wittenberger „Judensau“: „Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche ein Sau in Stein gehauen, da liegen junge Ferkel und Juden unter, die saugen. Hinter der Sau steht ein Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zeucht er den Pirtzel über sich, bückt und kuckt mit großem Fleiß der Sau unter den Pirtzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas scharfes und sonderliches lesen und ersehen“. Daher hätten die Juden auch den Schem Hamphoras, den Gottesnamen.
Den Stifter der Tafel hielt Martin Luther für einen ehrlichen und gelehrten Mann, er habe die Tafel gegen die „Lügen der Juden“ herstellen lassen.
Das Wittenberger Sandsteinrelief ist seit 1305 an der Stadtkirche bezeugt. Es entstand vermutlich als Zeichen der Abschreckung im Zusammenhang mit einer Judenvertreibung aus der Stadt Wittenberg.
Schmäh- und Spottbilder des Typs „Judensau“ waren seit dem 12. Jhdt. in ganz Europa, v.a. aber im deutschen Sprachraum weit verbreitet. Sie unterstellen Juden eine z.T. obszön – sodomitische Beziehung zu Schweinen. Antijüdische Darstellungen wie die "Judensau" in Wittenberg und anderswo waren - wie die periodischen Vertreibungswellen - Ausdruck des Antijudaismus dieser Zeit.
Abwertend - verächtliche Abbildungen der „Judensau“ hatten im späten Mittelalter, schon vor Luther, eine gewisse Popularität in Deutschland, denn es
gibt mehrere solche Darstellungen, z.B. das Flugblatt von 1470 (s.o.).
„Da die große Masse der Bevölkerung zu jener Zeit des Schreibens und Lesens nicht kundig war, und die Kirche die Menschen maßgeblich beeinflusste, waren solche obszönen Schandbilder eine Form der Schmähung, die auch der einfachste Mensch sofort verstand“ meinte Frau Irene Diekmann vom Historischen Institut der Universität Potsdam (vgl. Tagesspiegel, 24. IX. 2000, S. 18).
Auch im Dom St. Peter und Paul zu Brandenburg findet sich an einem der Kapitelle des siebenjochigen östlichen Kreuzgangflügels die Darstellung einer „Judensau“. Eine Besonderheit sowohl in der Stadt Brandenburg wie der Mark sind Backstein- und Terrakotta -Inschriften. Auch die „Judensau“ im Dom trägt eine Beischrift, die zu den ältesten dieser Art in Deutschland gehört, aber völlig unklar in der Deutung ist.
Das Kapitell (s.u.) zeigt ein eine Chimäre, ein Schweinskörper mit einem menschlichen Gesicht, mit Bart und „Judenhut“. Das Mischwesen aus Jude und Schwein sollte vermutlich eine Wesensgleichheit beider andeuten. Diese Vorstellung wurde bei späteren Darstellungen nicht mehr aufgegriffen.
Das Schwein auf dem Kapitell hat einen Arm predigend erhoben, es säugt seine vier Jungen und einen Menschen. Vor und hinter ihm sind jeweils ein knieend verehrender Mensch sowie ein „normales“ Schwein dargestellt.
In der Regel befanden sich Darstellung dieser Art an der Außenseite von Gebäuden, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Den Domkreuzgang aber durften einst nur Geistliche betreten, das verächtlich machende hetzende „Ornament“ richtete sich lediglich an Angehörige des Domstifts.
Das Brandenburger „Judenkapitell“ entstand um 1230 und ist damit die älteste bekannte Darstellung des Typs „Judensau“.
Bis heute sind in Europa ca. 48 Kirchen und anderen Gebäuden, v.a. in deutschsprachigen Gebieten Darstellungen dieser Art erhalten geblieben, in der Regel unterdessen mit distanzierend-erklärenden Hinweisen. So u.a. auch in …
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Die „Ernstkapelle“ im Magdeburger Dom zwischen den Türmen wurde unter Erzbischof Ernst von Sachsen (1476 - 1513) ab 1494 als Westchor und Grabkapelle für sich selbst eingerichtet. Ein Kapitell in der Südwestecke des Raumes zeigt eine „Judensau“ (Abb. s.u.). Die Magdeburger Juden ließ der Erzbischof 1493 aus der Stadt weisen - ein frühes Zeugnis mittelalterlicher Judenverfolgungen.
Übrigens ist die Magdeburger „Judensau“ nicht in dem ansonsten recht detaillierten Georg Dehio „Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler – Der Bezirk
Magdeburg“ (Akademie – Verlag, Berlin, 1975, S. 271) angeführt.
Auch in der Magdalenen - Stadtkirche in Eberswalde (die im September 2000 ihr 750jähriges Jubiläum feierte) gibt es an einem Kapitell auf der
linken Seite des Hauptschiffs eine Darstellung, die als „Judensau“ interpretiert wird. Das Relief zeigt ein Schwein und einen Menschen, der einen spätmittelalterlichen „Judenhut“ trägt. Die
Datierung des Reliefs ist ungesichert.
Das Relief in der Magdalenen – Kirche blieb jahrhundertelang fast unbeachtet, - quasi wurde es wiederentdeckt. Die Eberswalder Pfarrerin Cornelia Gentzsch meinte dazu: „Diese Symbolik ist ein Teil unserer Geschichte, die nicht ausgeklammert werden soll. Wir distanzieren uns selbstverständlich inhaltlich von diesen Darstellungen und haben ein großes Interesse an großes Interesse an gegenseitiger Akzeptanz und Verständigung“ (vgl. Tagesspiegel, 24. IX. 2000, S. 18). In Eberswalde macht die Kirche jedoch bei Führungen etc. nicht auf die „Judensau“ - Darstellung aufmerksam, man sieht sich nicht in die Lage versetzt, angemessen auf die Darstellung zu reagieren.
Die „Judensau“ in der Magdalenenkirche in Eberswalde
Bei der „Judensau“ im St. Viktor – Dom zu Xanten legt ein Schwein seine linke Pfote über die rechte Schulter eines durch den Spitzhut gekennzeichneten kauernden Juden. Mit seiner Schnauze saugt es an der Spitze des „Judenhutes“. Gleichzeitig klammert sich ein Affe an der anderen Pfote des Schweines an und saugt an dessen Zitzen. Die Darstellung erinnert an die Xantener Judenverfolgungen während der Kreuzzüge (vgl. Ginzel, S. 382, a.a.O.).
„Judensau“ im Xantener Dom St. Viktor (Abb. aus Ginzel, S. 382, a.a.O.).
Auf der äußeren Südseite des Regensburger Doms befindet sich das Relief einer sogenannten "Judensau". Auch saugen jüdische Menschen an den Zitzen einer Sau. Das beleidigende Relief wurde im Jahr 1330 geschaffen und ist nach wie vor öffentlich und unkommentiert für jeden sichtbar. Manche Kunsthistoriker nehmen an, dass der damalige Bildhauer die "Luxuria", die Genusssucht anprangern wollte. In der Vergangenheit kam es in Regensburg zu Protesten verschiedener Vereinigungen gegen die unkommentierte Darstellung. Dagegen betonte die Kirche immer den historischen Zusammenhang und den Denkmalsschutz. Nach langem Zögern wurde versprochen, eine Tafel mit einem erklärenden Text anzubringen, was aber wohl bis heute (??) nicht geschehen ist.
L i t e r a t u r :
Schalom Ben – Chorin: „Der unbekannte Gott“, Berlin 1963
Wolfgang Benz / Werner Bergmann (Hrsg.): „Vorurteil und Völkermord – Entwicklungslinien des Antisemitismus“, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, Basel, Wien, 1997
Bernard Blumenkranz: „Le juif dans
le miroir de l'art chretien“, 1966
Bernard Blumenkranz: „La polemique antijuive dans l'art chretien“, Bul. I.S.I., 1965
Max Brod: „Johannes Reuchlin und sein Kampf – Eine historische Monographie“, Fourier Verlag,
Wiesbaden 1988
Günther B. Ginzel (Hrsg.): "Antisemitismus - Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern
und heute", Verlag Wissenschaft und Politik, Bielefeld, 1991
Georg Herlitz / Bruno Kirschner: "Jüdisches Lexikon - Ein enzyklopädisches Handbuch des
jüdischen Wissens in vier Bänden", Jüdischer Verlag bei Athenäum, Frankfurt am Main,
1987, 2. Auflage
Walter Linden: „Luthers Kampfschriften gegen das Judentum“, Berlin, 1936
Karl Heinrich Rengstorf / Siegfried von Kortzfleisch (Hrsg.): „Kirche und Synagoge- Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden – Darstellung mit Quellen“, 2 Bände, Klett - Cotta / dtv, München 1988 Judenhasses in der deutschen Geschichte“, Rütten & Loening Verlag, Berlin 1989
Isaiah Shachar: „The 'Judensau': A Medieval Anti-Jewish Motif and its History“, London, 1974
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): „Deutsches Sprichwörter – Lexikon“, 5 Bde., Weltbild
Verlag, Augsburg 1987 (unveränderter Nachdruck der Leipziger Ausgabe von 1867)
Robert S. Wistrich (Hrsg.): „Demonizing the Other – Antisemitism, Racism and Xenophobia“,
Published for the Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism, The
Hebrew University of Jerusalem, Harwood Academic Publishers, Overseas Publishers
Association, N.V., 1999
„Judenkapitell“ im Kreuzgang des Brandenburger Domes (Photo: Christian Meyer, März 2018)
„Judensau“ im Magdeburger Dom (Abb. aus Schuder, 1989, S. 168, a.a.O.)